Bis zum Tag des Mauerbaus war der 13. August für mich ein eher heroisches Datum. Nicht nur weil es mein Geburtstag war, sondern am 13. August auch Karl Liebknecht und Fidel Castro geboren wurden. Die Parallele fiel mir erst wieder auf, als der 13. August in den Medien rauf und runter behandelt wurde und ich mich zwangsläufig mit meiner eigenen Erfahrung befassen musste. Natürlich erinnerte ich mich an die dramatischen Fotos und den von Woche zu Woche anschwellenden Flüchtlingsstrom, doch was war dem vorausgegangen? Flüchteten die Menschen, weil sie Not litten, und abweichende Meinungen verfolgt wurden oder war der Westen einfach attraktiver? Wahrscheinlich beides, doch letztlich entscheidend waren die haarsträubenden ökonomischen Widersprüche eines Systems, das mit zwei gegensätzlichen Wirtschaftslogiken und zwei Währungen auskommen wollte. Einem Mix aus Plan- und Marktwirtschaft, wo weder das eine noch das andere funktionierte.
Beim Erinnern an ein Land, das bereits vor mehr einem halben Jahrhundert unterging, fällt es schwer, sich an mehr als die Blockade, den Volksaufstand am 17. Juni und den Mauerbau zu erinnern. Doch der Dreh- und Angelpunkt waren nicht diese spektakulären Ereignisse, sondern das Nebeneinander zweier Währungen, die das Land stärker spalteten als alle Grenzen. Im Schnitt erhielt man, je nach Tageskurs, in einer der Wechselstuben für eine DM zwei Ostmark und wer als Ostberliner Westgeld erhalten wollte, musste für eine DM zwei Ostmark hergeben.
Vom Nebeneinander von DM und Ostmark profitierten alle Ostberliner, die ihr Geld im Westen verdienten, in Ostmark umtauschten und damit mehr Kaufkraft besaßen. Profitabel war dies aber nicht nur für die Ostdeutschen, die im Westen arbeiteten, sondern auch für die Unternehmen, die ostdeutsche Arbeitskräfte beschäftigte. Ich arbeiteten damals zusammen mit West -und Ostkollegen in einem Westberliner Kranbautrieb – zum gleichen Tarifvertrag zwar, doch die Ostkollegen erhielten nur die Hälfte ihres Lohns in DM und den Rest in Ostmark. Für die Westberliner Unternehmen zweifellos eine Subvention und für die Ostarbeiter ein Anreiz, im Westen nach Arbeit zu suchen. Für die ostdeutsche Wirtschaft war dieser Zustand katastrophal, weil ihr einerseits Arbeitskräfte abgeworben wurden und die Westberliner andererseits im Osten billig einkaufen konnten.
Das Warenangebot der DDR war in dieser Hinsicht weder besonders attraktiv noch billig und erst recht nicht überall zu haben. Inhaltlich, preislich und vor allem von zahlungskräftigen Westkunden gefragt, war jedoch das gesamte Kulturangebot. Das Angebot von Büchern, Theateraufführungen und Konzerten war aber nicht nur attraktiv, sondern auch hoch subventioniert. Marxistische Literatur war so billig, dass westdeutsche Studenten nach dem Geldumtausch für Marx Kapital nicht mehr ausgeben mussten, als für eine Westberliner Currywurst.
Die Mauer trennte auch den Berliner Nahverkehr. U-Bahnen und S-Bahnen, die dennoch die beiden Teile der Stadt verbanden, fuhren ohne anzuhalten einfach durch. Eine kuriose Ausnahme machte die so genannte Wannseebahn, die zwar Eigentum der ostdeutschen Reichsbahn war, aber nur an Weststationen halten durfte. Die Junge Union kam auf die Idee, die im Westen liegenden Bahnhöfe zu boykottieren. Ihr Parole hieß: „Fahrt nicht mit der S-Bahn – bezahlt nicht Ulbrichts Stacheldraht: Tatsächlich fehlte der DDR ausreichend Stacheldraht, der aber nicht in Westdeutschland, sondern überwiegend in osteuropäischen „Bruderländern“ zu haben war.
Seit Marx wissen wir, dass der kapitalistische Profit nicht durch billig kaufen und teuer verkaufen entsteht, sondern durch wertschöpfende Arbeit. Daran hat sich im Prinzip nichts geändert, doch inzwischen kommen Zweifel auf, weil ein immer größerer Teil der realisierten Profite nicht aus der Lohnarbeit, sondern aus dem Wachstum der Immobilienpreise entsteht. 60 Prozent der globalen Anlagevermögen stecken inzwischen nicht mehr in der Produktion von Waren oder Dienstleistungen, sondern im Immobiliensektor – drei Viertel davon in Wohnungen. (Werner Heinz S.115) Wie sehr die bestehende Eigentumsordnung dem Städtebau schadet, betonte 1931 schon der Architekt und Städteplaner Walter Gropius: Die schlimmste Fessel des Städtebaus bleibt das unsittliche Recht des privaten Eigentums an Boden.“ (ebenda).
Die Coronapandemie stellt alle bisherigen, die Menschheit bedrohenden Seuchen in den Schatten. Nicht nur hinsichtlich von Sterberaten oder wirtschaftlichen Langzeitfolgen, sondern weil es eine globale, sich in wenigen Monaten und auf allen Kontinenten ausbreitende Krise ist. Es drängt sich unausweichlich die Frage auf, inwieweit sich diese globale Krise mit der ebenso weltumfassenden Klimakrise vergleichen lässt und was sie voneinander unterscheidet. Die Unterschiede scheinen unübersehbar – die Pandemie vernichtet Menschenleben, die durch die Erderwärmung ausgelöste Klimakrise aber produziert extreme Wetterlagen, erhöht den Meeresspiegel und rottet tierische wie pflanzliche Arten aus. Der entscheidende Unterschied aber ist, dass Pandemien eingedämmt werden können, während der Klimawandel bestenfalls zu verlangsamen ist. Doch es gibt auch eine unübersehbare Gemeinsamkeit: Beide Krisen sind eine Folge des gestörten Mensch-Naturverhältnisses und der Dominanz des Marktes.
Die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ will den Berliner Senat auffordern, ein Gesetz zu erlassen, welches die Vergesellschaftung der Wohnungen von privaten Wohnungsgesellschaften, mit mehr als 3000 Berliner Wohnungen regelt. Die rechtliche Grundlage dafür liefert zwar der Artikel 15 des Grundgesetzes, doch letztlich wird das politische Kräfteverhältnis und die öffentliche Debatte darüber entscheiden, ob es tatsächlich zur Enteignung kommt. Zwar sind Enteignungen in der BRD keine Seltenheit, vor allem wenn es um Enteignungen für den Bau von Autobahnen geht, doch eine Verwandlung von Wirtschaftsgütern in Gemeineigentum hat es, nach meinen Kenntnissen, seit der Verabschiedung des Grundgesetzes nicht gegeben. Umso wichtiger ist es, sich nicht allein auf den Artikel 15 der Verfassung zu berufen, sondern sich auch an die juristische Debatte bei der Verabschiedung des Grundgesetzes und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu erinnern.
Keiner der im Bundestag vertretenen Parteien ist es wenige Monate vor dem Urnengang gelungen, mit nur einer Parole an das aktuelle Empfinden der Wählerinnen und Wähler anzuknüpfen: „Deutschland, aber normal“. Wer wünscht sich zwischen den wechselnden Lockdowns und nervigen Quarantäneregeln nicht ein Mehr an Normalität? Wobei die AfD mit „Deutschland, aber normal“ nicht nur eine massenwirksame Parole gefunden hat, es ist ihr auch gelangen, die eigene Harmlosigkeit zu demonstrieren. Götz Kubitschek hat daraus, ganz offen, eine Strategie der „Zurschaustellung der eigenen Harmlosigkeit„ gemacht Dagegen ist es bisher keiner Partei gelungen, an die aktuelle Befindlichkeit des Wahlvolkes anzuknüpfen. Stattdessen haben die Korruptionsfälle in der CDU ihre Wahlprognosen ebenso auf einen historischen Tiefststand gebracht, wie das inhaltsarme Gerangel um ihren Spitzenkandidaten.
Angela Merkel hat die Corona-Krise leichtsinnigerweise als die größte Herausforderung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bezeichnet. Das ist schon deshalb falsch, weil die Coronakrise nicht ein total zerstörtes und verarmtes, sondern ein gegenwärtig höchst wohlhabendes und erstaunlich widerstandsfähiges Land getroffen hat. Und nicht nur das: Die Krise trifft vor allem die Schwachen, während die Reichen noch reicher werden. Für die Milliardäre, das Finanzkapital und die großen Konzerne heißt die Parole immer noch Business as usual. Während viele kleine Betriebe vor dem Konkurs stehen, Soloselbständige Pleite gehen und in den Innenstädten immer mehr Geschäfte verschwinden, knallen in den Vorstandsetagen wieder einmal die Sektkorken. Die Lage erinnert an den Ökonomen Schumpeter, der Krisen wie die gegenwärtige, zynisch als „schöpferische Zerstörung“ bezeichnete. Tatsächlich aber erleben wir gegenwärtig keine Neuschöpfung, sondern eine weiter zunehmende Dominanz des Finanzkapitals.
Vergleicht man die Internetkommunikation mit der Entwicklung früherer Umwälzungen der Wissensverbreitung, etwa mit der Erfindung der beweglichen Lettern durch Gutenberg, dem Rotationsdruck oder Radio und Fernsehen, dann hat das Internet all diese Entwicklungen bei weitem in den Schatten gestellt. Nicht nur durch die größere Verbreitung von Wissen, sondern vor allem auch dadurch wie und von wem gesellschaftliches Wissen produziert wird. Das Internet scheint in dieser Hinsicht eine völlig neue Stufe der Wissensproduktion erreicht zu haben, weil es allen Individuen die Möglichkeit eröffnet, sich Wissen anzueignen, zu produzieren und global zu verbreiten. Und nicht nur das, denn mit der künstlichen Intelligenz scheint die Produktion von Wissen immer mehr zu einer Angelegenheit von Maschinen zu werden. Doch mit der Digitalisierung verhält es sich wie mit jeder technischen Revolution: Ihre konkrete Entwicklung wird nicht vom Erfindergeist bestimmt, sondern von den Profitierwartungen der Investoren.
Seuchen mit Millionen Toten sind in der Menschheitsgeschichte weder eine Seltenheit noch beschränken sie sich auf die Vernichtung von Menschenleben. Sie vernichten auch soziale und ökonomische Strukturen, wodurch eine allgemeine Krise entsteht, in der einerseits die Schwachstellen der Gesellschaft sichtbar werden und sich andererseits aber auch ein noch diffuses Bedürfnis nach gesellschaftlichem Wandel entfaltet. Der italienische Philosoph und Marxist Antonio Gramsci hat eine solche Krise als Interregnum bezeichnet, als eine Situation, in der das Alte nicht mehr leben und das Neue noch nicht zur Welt kommen kann. Ein geradezu typisches Beispiel dafür ist die Renaissance, in der einerseits das dogmatische Weltbild der Religion erschüttert wurde und die Grundlagen für die bürgerlich-kapitalistische geschaffen wurden, andererseits aber auch Ketzerprozesse und Hexenverbrennungen zunahmen oder die Pest ganze Städte ausrottete. Natürlich gibt es keine schlichte Analogie zwischen der Krise des Mittelalters und der des 21. Jahrhunderts, doch die weltweite, von der Coronapandemie ausgelöste Krise zeigt überaus deutlich, dass wir uns in einer Umbruchphase befinden, in der das Alte nicht länger bestehen kann und das Neue noch nicht zur Welt kommen kann.“
Die Corona-Pandemie hat das Schließen von Kulturellen und sozialen Institutionen, aber auch von Dienstleistungen erzwungen, von denen jetzt viele vor dem Konkurs stehen und deren Verschwinden unser Leben verändern wird. Bislang werden große finanzielle Anstrengungen unternommen, um zu retten, was noch zu retten ist. Die Straßen werden leerer und es entsteht eine Art „digitaler Zu Hause-Gesellschaft“[1], in der die Computerkommunikation das persönliche Gespräch ersetzt, das Fernsehen endgültig den Kinobesuch verdrängt und Bundesligaspiele ohne Fanjubel auskommen müssen. Die Politik schüttet Milliarden Helikoptergeld aus, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie einzudämmen, doch was der Lockdown mit der Psyche der Menschen macht, wird nur am Rande diskutiert.
[1] Talja Blokland, „Die Straße braucht uns“, Tagesspiegel 23. August 2020
Der tägliche Corona-Faktencheck saldiert nicht nur akribisch Ansteckungszahlen, Genesende und Todesfälle, sondern auch Arbeitslose und Konkurse. Das alles macht verständlicherweise Angst, suggeriert aber gleichzeitig, gut informiert zu sein und so gibt die überwiegende Mehrheit bei Meinungsumfragen an, dass die Politik die Sache im Griff hat. Doch das ist nur die eine Seite der Pandemie. Die andere ist, dass sich mit der drohenden Infektionsgefahr und der diffusen Zukunftsunsicherheit das Verhalten der Menschen ändert. Sie sind auf eine neue Art verletzlicher und sensibler für gesellschaftliche Fehlentwicklungen, Bedrohungen und auch Benachteiligungen geworden. Es ist als hätte die Corona-Pandemie ein diffuses Wetterleuchten aufflammen lassen, von dem man noch nicht weiß, ob es nur blitzt oder auch einschlagen wird.
Die Corina-Krise hat vieles verändert und wird weitere Veränderungen nach sich ziehen. Zumal sie der Digitalisierung einen wahren Entwicklungsschub und neue, profitträchtige Geschäftsfelder bescherte. Die Aktien der Programme für Videokonferenzen und Webinare sind zu einem wahren Renner geworden. Immer mehr Unternehmen, staatliche wie kirchliche Institutionen und Universitäten verlegen ihr Tun und Handeln ins Internet und treiben damit Nachfrage und Profite in die Höhe. Nicht alles davon wird bleiben, doch die Investitionen müssen sich natürlich auszahlen und die Anbieter werden keine Mühe scheuen, den Nutzern neue Updates aufzuzwingen, wie man das von Microsoft seit langem kennt.
Die schier endlose Kette der Gedenkfeiern, Dokumentationen und Events zum 30. Jahrestag des Mauerfalls ist vorbei – jetzt wird es ernst. Denn auf den Jubel von 1989 folgte die Ernüchterung und das Entsetzen von 1990. Man darf gespannt sein, was davon Politik und Medien beschäftigen wird.
Zwischen dem Herbst 1989 und dem Anschluss der ehemaligen DDR an die Bundesrepublik fanden radikale Brüche und Umbrüche statt, wie sie in der deutschen Geschichte noch nie stattfanden. Bis heute wird dabei der Eindruck erweckt, als habe es sich um einen kontinuierlichen und letztlich erfolgreichen Prozess gehandelt. Doch wenn auch die nachwirkenden Probleme des Systemwechsels nicht verschwiegen werden, so schweigt man doch bis heute über die Wende in der Wende. Aus der faszinierenden Utopie wurde in kurzer Zeit eine ernüchternde Dystopie. Die Utopie hatte einen realen Hintergrund, nämlich die von Gorbatschow eingeleitete Perestroika und die seine Glasnost-Strategie. Den ersten realen Anlass, eine grundlegende politische Wende für möglich zu halten, schufen die letzten DDR-Kommunalwahlen, bei denen die oppositionelle Szene flächendeckend die Stimmabgabe beobachtete und letztlich beweisen konnte, dass das offizielle Wahlergebnis gefälscht war. Es folgten die ersten großen Demonstrationen in Leipzig und Berlin, sowie die von Kohl mit der ungarischen Regierung ausgehandelte Massenflucht und schließlich der Rücktritt Honeckers.
Von dem Moment an öffnete sich ein Zeitfenster, das den revolutionären Prozess unumkehrbar machte. Die Mauer fiel, die Opposition legte ein Zehn-Punkte-Programm für eine Reform des Sozialismus vor und am „Runden Tisch“ versuchte man die Zukunft neu zu denken. Nachgedacht hatte man zur gleichen jedoch auch in Bonn, wo Kohl erst für die DDR Reformen forderte und blitzschnell zur Forderung nach der deutschen Einheit überging. Wahrscheinlich nicht ohne bundesdeutsche Unterstützung, skandierte man auf den Leipziger Montagsdemos nicht mehr „wir sind das Volk“, sondern „wir sind ein Volk“. Bis heute darf man sich darüber wundern, wie schnell diese Demos nicht nur zu einer ungeheuren Menge schwarz-rot-goldener Fahnen kamen, sondern diese auch an Bambusstöcken flatterten, die in der DDR bislang nur schwer zu haben waren. Nach dem Kohl dann Dresden besuchte und triumphalen Beifall bekam, ließ er erstmals die Katze aus dem Sack: „Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Deutschen die Einheit der Nation wollen.“
Die große Koalition hat das große Glück, nach langen Geburtswehen aus dem Vollen schöpfen zu können. Gegenüber 2016 sind die Steuereinnahmen im vergangenen Jahr nämlich um 26,3 Milliarden Euro gestiegen. Mit diesem Plus von 4,1 Prozent stiegen die Staatseinnahmen sogar stärker als die gesamte Wirtschaftsleistung, die nur um 2,2 Prozent zulegte. Was aber macht die Große Koalition mit diesem Steuersegen? Sie erhöht den Verteidigungsetat um 4,2 Prozent, also um mehr, als die Steuereinnahmen zulegen. Dagegen steigen die Ausgaben für Arbeit und Soziales nur um 2,9 Prozent und die Ausgaben für Gesundheit sogar um nur 0,2 Prozent.
Was Neoliberalismus bedeutet, weiß heute fast jede und jeder, nämlich Marktradikalismus, Privatisierung öffentlicher Daseinsvorsorge und Sozialabbau. Doch die ökonomische Basis einer Gesellschaft bestimmt nicht ihr gesamtes soziales, politisches und kulturelles Leben. Diese von Marx als gesellschaftlicher Überbau bezeichnete Sphäre genießt nicht nur eine gewisse Selbständigkeit, sondern wirkt auch auf die ökonomische Basis zurück. Philosophisch gesehen gehört die postmoderne Ideologie deshalb Viele auf die gleiche Weise zum Neoliberalismus wie die Aufklärung zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Viele Erscheinungen, der vom Neoliberalismus geprägten Gesellschaften lassen sich nur verstehen, wenn man sie als Auswirkungen der postmodernen Kulturrevolution untersucht.
Das größte Problem mit Trump ist, dass er weder eine Strategie noch einen Plan hat. Er handelt wie ein Kind, das im Elternhaus einfach mal alles ausprobiert, was ihm in die Hände kommt. Wobei sein Weltbild in jeder Beziehung dem dumpfen Alltagsbewusstsein derjenigen entspricht, die ihn gewählt haben. Es beschränkt sich auf “America First“ und einem Ressentiment gegen alles, was an die Politik Obamas erinnert. Und das ist umso gefährlicher, je mehr sich die geostrategischen Interessenkonflikte verfestigen. Denn die nach dem Ende der Systemkonkurrenz entstandene multipolare Weltordnung ist so fragil, dass jede Veränderung des vielfältigen Machtgefüges in einen nicht mehr kontrollierbaren Krieg abrutschen kann.
Mit dem Kürzel Industrie 4.0 wurde eine Metapher zur Welt gebracht, mit der suggeriert wird, dass nicht der Profithunger des Kapitals Standorte oder Arbeitsplätze vernichtet und soziale Standards aushöhlt, sondern eine neue technische Revolution, die vor allem geistige Arbeit an Computer abgibt und Produktion wie Transport global vernetzt. Der Wandel wirkt so tiefgreifend, dass die Digitalisierung wie eine unbeeinflussbare Naturkraft erscheint. Zumal sie durch Handy und PC auch den Alltag revolutioniert hat. Tatsächlich aber setzt der Kapitalismus grundsätzlich nur dann neue Technologien ein, und entwickelt sie auch nur unter der Voraussetzung weiter, dass damit Arbeitskosten gesenkt, Profite erhöht und neue Märkte geschaffen werden. Mit der gleichen Technologie ließen sich jedoch völlig andere Effekte erreichen, wenn ihre Entwicklung nicht vom Markt, sondern von gesellschaftlichen Bedürfnissen bestimmt würde. Verabschiedet man sich jedoch von der Vorstellung einer Arbeitsgesellschaft, in der nur profitabel ist, was Wert und Mehrwert schafft, dann wird in Zukunft nicht weniger, aber andere Arbeit benötigt.
Die LINKE hat seit 2017 viele neue, vor allem junge Mitglieder gewonnen. Ihre Erwartungen sind groß, doch kann die Partei sie auch erfüllen? Die Frage lässt sich nur beantworten, wenn man sich überlegt, weshalb sie Mitglied wurden. Genaues wissen wir darüber nicht aber wir können uns vorstellen, was sie nicht wollen, nämlich langweilige BO Sitzungen, die ihre Zeit mit der Abarbeitung von Formalien oder trockenen Tagesordnungen verbringen: Berichte aus Kreis- oder Bezirksvorständen, aus der letzten Gemeinde- oder Stadtratssitzung und die jüngste Initiative gegen die Gebietsreform. So spannend parlamentarische Arbeit auch ist, Berichte über sie sind es selten. Das Gleiche gilt für die unverzichtbaren Formalien einer demokratischen Partei, etwa für Delegiertenwahlen und Rechenschaftsberichte. Nun wird man in einer parlamentarisch aktiven - und vor allem auch demokratischen Partei – weder auf die Beschäftigung mit den Problemen vor Ort, noch auf Regularien verzichten können. Die Frage ist nur, welchen Stellenwert sie bekommen, wieviel Zeit sie verbrauchen und womit man sich hauptsächlich in einer Sitzung beschäftigt.
Wenn 50 Jahre nach der 68er Rebellion überhaupt noch etwas Positives über sie zu lesen ist, dann über die mit der Rebellion beginnende Liberalisierung der bis dahin ziemlich verstockt konservativen BRD. Das ist sicher richtig, aber nur die halbe Wahrheit. Denn wahr ist leider auch, dass die Liberalisierung einer vom Markt getriebenen Gesellschaft nicht der Emanzipation des Individuums dient, sondern es in neue Abhängigkeiten treibt. Die Unterdrückung durch das konservative Moralregime verwandelt sich durch die neoliberale Modernisierung in einen wachsenden Zwang zur individuellen Inszenierung und der Anpassung an die sich immer schneller wandelnden Werte und Moden. Während der Konservatismus noch die Abweichung bestrafte, ächtet der von Konkurrenz und Wettbewerb getriebene Neoliberalismus das Gleichbleibende. In Anlehnung von Engels könnte man sagen, die 68er haben erreicht was sie wollten, doch was letztlich eintrat, ist anders als sie es erwartet hatten.
Die SPD hat keine Chancen auf Erneuerung, so lange sie sich nicht von Schröders „neuer Sozialdemokratie“ verabschiedet. Das gilt natürlich für die Agenda 2010, vor allem für die so genannten „Reformen am Arbeitsmarkt“, konkreter noch für „Hartz IV“, doch das wird nicht reichen, um den Platz einzunehmen, den sie nach Willy Brandt aufgegeben hat. Der SPD fehlt es zwar nicht an so genannten Politikangeboten für die „hart arbeitenden Menschen“, ihr mangelt es seit langem schon an einer umfassenden, wirklich aufrüttelnden Gesellschaftskritik und faszinierenden Zukunftsperspektive. Was sie jetzt anzubieten hat, ist nicht mehr als eine sozial abgefederte Variante des Bestehenden. Es fehlt an einer Kritik, die sich nicht ins Konkrete flüchtet, sondern alle gesellschaftlichen Zustände angreift, in denen Menschen unterdrückt, ausgebeutet und erniedrigt, vor allem aber auch für dumm verkauft werden. Allerdings mangelt es der Sozialdemokratie noch mehr an einer kritischen Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte, nicht nur seit dem Ausrufen der „neuen Sozialdemokratie“ durch Gerhard Schröder, sondern seit Godesberg.
Über 150 russische Diplomaten in Ländern des Westens packen momentan ihre Koffer, um ins kalte Moskau zurückzukehren. Alle Vergleiche mit dem Kalten Krieg, den übrigens niemand anderes als der Russe Gorbatschow beendet hatte, gehen an der Realität vorbei. Zwar bedrohen sich Nato und Russland nicht durch die Möglichkeit atomarer Erstschläge, wie vor 50 Jahren, doch die militärische Konfrontation im Nahen Osten ist heute wesentlich explosiver und unberechenbarer als damals. Da helfen keine Militärs mehr, sondern nur noch Diplomaten. Was für ein Wahnsinn, gerade die nach Hause zu schicken. Wie sehr die Wahrheit in dieser neuen Konfrontation auf der Strecke bleibt, zeigt übrigens nichts besser, als der aktuelle Facebook-Skandal. Ein Jahr lang heizte man die Öffentlichkeit mit der Nachricht an, dass die Russen via Internet Trump zum Sieg verholfen haben und nun wissen wir, dass es der britische Datenmanipulator Cambridge Analytika war, der mit Facebook-Daten psychologische Wahlmanipulation für Trump betrieb. Und von Stunde an wird nur noch über Facebook geredet, statt die Frage zu stellen, wer Cambridge Analytika beauftragt und bezahlt hat, um einen rüpelhaften Immobilien-Milliardär zum Präsidenten der USA zu machen.
Nun hat die SPD nach verlorener Bundestagswahl und magerem Koalitionsvertrag doch noch das Thema gefunden, mit dem sie im Wahlkampf verlorenen Boden hätte wettmachen können, nämlich eine Kehrtwende von Hartz IV zu einem solidarischen Grundeinkommen, verbunden mit öffentlich geförderter Beschäftigung. Den Aufschlag machte der Regierende Bürgermeister Berlins, Michael Müller, dann folgte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer und schließlich sprang auch noch der neue Bundesarbeitsminister Hubertus Heil auf den fahrenden Zug. Nur keiner merkt, dass die SPD ein Projekt wiederentdeckt hat, dass die Berliner LINKE bereits vor 13 Jahren durchgesetzt hatte und welches die Berliner die Sozialdemokraten dann wieder beerdigten, als sie mit der CDU ins Bett gingen. Wobei zweierlei auffällt: Erstens kann die LINKE in Koalitionen mit der SPD tatsächlich eigene politische Projekte durchsetzen, zweitens aber neigt sie zur Selbstverleugnung, wenn es darum geht, eigene Erfolge zu feiern.
Noch ist mehr als unklar, was die von Sahra und Oskar proklamierte Sammlungsbewegung tatsächlich sein soll. So spricht Sahra in ihrem ND-Interview am 21. März von einer „Plattform“ die den „Druck für eine andere Politik in der SPD zu organisieren“ soll. Was letztlich heißt, dass die 62.000 Mitglieder der LINKEN, ihre 67 Bundestagsabgeordneten, die drei Beteiligungen an Landesregierungen und die nicht gezählten Abgeordneten in Ländern und Kommunen dazu bisher nicht in der Lage waren. Dafür mag es zweifellos Belege geben, aber nirgendwo sonst kommt die SPD mehr von links unter Druck als gerade da, was übrigens auch zum Aufgabenbereich des Fraktionsvorsitzenden Lafontaine an der Saar und der Fraktionsvorsitzenden Wagenknecht im Bundestag gehört. Gleichzeitig wird mit dem Ruf nach einer Sammlungsbewegung der Eindruck erweckt, als wäre DIE LINKE bisher nicht fähig gewesen, unterschiedliche soziale, kulturelle und politische Milieus zu erreichen. Und auch dafür gibt es Belege. Doch nach dem Epochenbruch von 1989 gab es nirgendwo in Europa eine vergleichbar pluralistische und über Jahrzehnte erfolgreichere Sammlungsbewegung als die daraus entstandene LINKE. Vielleicht sollte man sich vor dem Nachdenken über eine neue Sammlungsbewegung zunächst einmal mit der Praxis und den Erfahrungen der 1990 gegründeten Sammlungsbewegung befassen.
Wieder ein Jahrestag - und was für einer. Die Sonderseitenredaktionen freuen sich, aber wer freut sich sonst noch? Die ehemaligen Akteure erfreuen sich längst schon ihrer Rente und die Zeitgeistdiagnostiker mühen sich mehr oder weniger redlich, eine Verbindung zur Gegenwart auszuloten. Sparsames Lob für das politische Engagement der damaligen Rebellen auf der einen Seite und warnende Erinnerung auf der anderen, weil 1968 auch die Geburtsstunde der Roten Armee Fraktion schlug. Nichts Neues könnte man sagen, hätten wir nicht die AfD. Ausgerechnet ihr blieb es vorbehalten, der Rebellion von 1968 neue Bedeutung einzuhauchen und sie in die Gegenwart zurückzuholen. Es begann im April 2016 mit der Rede des Vize-Vorsitzender Jörg Meuthen, als er auf dem Stuttgarter Parteitag ausrief: „…wir wollen ein anderes Deutschland…weg vom links-rot-grün verseuchten 68er Deutschland“. Zu viel der Ehre, hatte ich damals gedacht, doch Meuthen hatte mit seiner Kampfansage tatsächlich die Zauberformel für ein Bündnis gefunden, das inzwischen von der äußersten Rechten bis zur CSU reicht. Und, dass der Zauber bereits wirkt, zeigte niemand besser als Alexander Dobrinth, als er in der WELT eine Antwort „auf die linke Revolution der Eliten“ versprach und eine „konservative Revolution der Bürger“ ankündigte.[1] Stellt sich die Frage, ist die neue Rechte aus der Zeit gefallen und will das Rad der Geschichte zurückdrehen oder hat die alte Linke vergessen was sie tatsächlich verändert hat.
[1] Alexander Dobrindt, Für eine bürgerliche Wende, in: „Die Welt“, 4.1.2018.
Immer häufiger werden steigende Bildungsinvestitionen als das entscheidende und häufig auch alleinige Mittel- zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit verkauft. Das klingt einleuchtend, weil mangelhafte Bildung und Armut in der Regel zusammen auftauchen. Doch lassen sich Dauerarbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung und zunehmende Armut durch Bildungsinvestitionen überwinden? Der Koalitionsvertrag von Union und SPD unterstellt genau das und widmet dem Thema Bildung mehrfach so viel Text wie der Sozialpolitik. Auch empirische Untersuchungen kommen immer wieder zu dem Schluss, dass Bildungsdefizite der Hauptgrund für das Abrutschen in prekäre Lebenslagen sind. Das Problem solcher Untersuchungen ist aber grundsätzlich, dass statistische Zusammenhänge noch lange keine Ursachen beschreiben. Grund genug dem tatsächlichen Zusammenhang von Bildungs- und Sozialpolitik sowie den eigentlichen Absichten der neuen Bundesregierung auf den Grund zu gehen.
Dass die SPD-Spitze mit Gabriel ihren beliebtesten und international angesehenen Minister in der Versenkung verschwinden lässt, das kann eigentlich nicht überraschen, wenn man sich die neue, amtierende Führung betrachtet. Sicher, es gibt ein paar neue Gesichter, doch nimmt man mal Andrea Nahles aus, die nach ihrem „ätschi – bätschi“ auch weiterhin für originelle Überraschungen gut ist, macht sich ansonsten eher Langeweile breit. Olaf Scholz kann man getrost die Leitung einer Stadtverwaltung übertragen und Heiko Maas gibt sicher einen guten Büroleiter ab, doch politisches Profil sieht anders aus. Leidenschaftlich, streitfreudig und phantasievoll ist niemand an der neuen Spitze.
Jetzt wird die GroKo an die Arbeit gehen, aber wohin eigentlich? Es ist schon auffällig, wer alles den Koalitionsvertrag gut findet. Die Wirtschaft überwiegend, auch die Gewerkschaften und natürlich jede Menge Interessenverbände, die hier und da Erfreuliches entdecken. Auch bei allem Gemecker aus Union und SPD, reklamiert jeder für sich Fortschritte. Und die gibt es natürlich, wenn man unter Fortschritt Optimierung versteht. Hier ein bisschen mehr, dort ein bisschen weniger und ansonsten bleibt alles wie es ist oder es kommt wie es schon mal war. Ist es nicht paradox, wie bescheiden sich das alles im Koalitionsvertrag liest, obwohl wir in Zeiten immer schnellerer gesellschaftlicher Umbrüche und hinfälliger politischer Gewissheiten leben? Wenn überhaupt noch von Zukunft geredet wird, handelt es sich um technische, nicht um gesellschaftliche und erst recht nicht um ökonomische Innovationen. Wäre da nicht der viel zitierte Fetisch namens Digitalisierung, hätte die Politik keinerlei Neues zu bieten. Es fehlt rechts, wie leider häufig auch links, an den großen Linien, mit denen einmal Ludwig Erhard oder Willy Brandt und nicht zu Letzt die 68er Bewegung hierzulande die gesellschaftliche Entwicklung vorantrieben.
Am Mittwochabend ließ Sandra Maischberger in ihrer Talkshow die Frage diskutieren: „Wozu brauchen wir noch ARD und ZFD?“ Hintergrund der gewagten Frage war eine Abstimmung in der Schweiz, die auf die Abschaffung des öffentlich rechtlichen Rundfunks in der Alpenrepublik zielt. Keine Frage, dass sich das auch in Deutschland manche wünschen. Voran natürlich die Privatsender und - wen wundert es – auch die AfD. Wer also hätte bei Sandra Maischberger kompetenter dazu Stellung nehmen können als Thomas Gottschalk, den es vom öffentlichen rechtlichen Fernsehen zu RTL trieb oder den ehemaligen Boss von ProSieben – aber eben auch die AfD Vizevorsitzende Beatrix von Storch, die nicht nur ihren Rundfunkbeitrag hartnäckig verweigert, sondern ihren Sprecher sogar erklären ließ: „Wenn es möglich wäre und ich mehr Zeit hätte, würde ich gerne statt zu zahlen drei Tage in Ersatzhaft gehen.“ Man darf annehmen, dass ihr die Zeit dazu schon deshalb fehlt, weil sie lieber der Frage nachgeht: „Wozu brauchen wir noch ARD und ZDF?“
Wochenlang durften wir uns von allen Seiten anhören, dass sich SPD und Union bitteschön mit den Koalitionsgesprächen beeilen sollten, um die Regierungsfähigkeit der Republik zu retten. Nun, diese Sorge scheint gebannt, selbst wenn man im Willy-Brandt-Haus noch die Zitterpartie des Mitgliederentscheids zu überstehen hat. Doch egal wie er ausgehen wird, auf Regierungsfähigkeit kann man nicht hoffen. Was weniger an den faulen und erschreckend unscharfen Kompromissen der Koalitionsvereinbarung liegt, als am Zustand der vertragschließenden Parteien. Wir haben es mit einer veritablen Krise der parlamentarischen Demokratie zu tun, über die sich nur einer freuen kann, nämlich die AfD. Bei der jüngsten Umfrage von Infratest liegen die Rechtspopulisten mit 15 Prozent nur noch einen Prozentpunkt hinter der SPD und bleiben damit im Bundestag nicht nur die stärkste, sondern auch noch mehr Zustimmung gewinnende Oppositionspartei. Das erste Mal in der bald 70jährigen Geschichte der BRD stellen nicht Sozial- oder Christdemokraten die parlamentarische Opposition, sondern die äußerste Rechte. Das wird Folgen haben.
Es war von Anfang an klar: Die SPD konnte aus den Koalitionsverhandlungen nur als Verlierer herausgehen. Erstens weil sie bereits geschwächt in die Verhandlungen ging und zweitens weil die Union schon deshalb gewinnen musste, weil sie nur das Bestehende zu optimieren versprach, während sich die SPD Hoffnungen auf einige bescheidene Reförmchen machte. Die Union musste zwar für das eine oder andere ein wenig mehr Geld versprechen, doch die SPD ist nicht nur mit ihren wenigen Reformvorhaben gescheitert, sie hat auch noch Seehofers Obergrenze zugestimmt und bereitwillig akzeptiert, dass der Familiennachzug für Flüchtlinge mit begrenztem Schutz bis zum Sommer ausgesetzt bleibt. Letztlich ist es der Union gelungen, ihre eigenen Vorhaben durchzusetzen und die Kernforderungen der SPD entweder in den Papierkorb zu befördern oder bis zur Unkenntlichkeit zusammenzustreichen. Die Christdemokraten haben erfolgreich operiert, doch die Sozialdemokratie liegt im Koma. Egal wie der Mitgliederentscheid ausgehen wird – die Niederlage der SPD ist nicht wegzudiskutieren, weil sie nicht einmal die selbst verursachten sozialen Grausamkeiten rückgängig machen konnte. Und trotz alledem: Es scheint für die SPD auch Hoffnung zu geben, denn der Widerstand gegen den Koalitionsvertrag, die Breite der innerparteilichen Diskussion und die beeindruckende Eintrittswelle könnten auch zur Wiederbelebung des Patienten führen.
Oskar Lafontaine will eine Linkspartei, SPD und Grüne übergreifende Bewegung schaffen. Fragt sich nur warum eigentlich. Mit Sicherheit nicht um die erwähnten Parteien zu stärken, sondern sie auf den Status von Zulieferbetrieben zurückzuschrauben. Zweifellos argumentiert er damit auf der Höhe der Zeit, denn Regierungswechsel werden heute immer häufiger, wie etwa in den USA, Frankreich und Österreich von populistischen Bewegungen und charismatischen Selbstdarstellern erkämpft. Wenn sich dahinter noch eine Partei verbirgt, na gut, doch sie wird nur noch gebraucht, um Winkelemente zu schwenken und ihrem Führer zuzujubeln. Alles Weitere, von den Masseninszenierungen und Auftritten ihres Stars bis hin zu den politischen Parolen, liegt in der Hand von Werbeleuten, Kommunikationsspezialisten und Meinungsforschern. Das Konzept wäre nie möglich und zugegebenermaßen auch erfolgreich geworden, ohne die tief greifende Krise der klassischen Parteien. Übrigens weniger noch in Deutschland als in Frankreich, Italien oder Österreich, doch der Boden, auf dem sich Parteien bewegen, beginnt weg zu brechen.
Jamaika kommt nicht so recht in Gang - wen wundert es? Denn sieht man einmal von der FDP ab, ist es ein Verliererbündnis, das durch nichts anderes zusammengehalten wird, als den Willen zur Macht. Die überaus verständliche Abneigung der SPD gegen eine ihre Substanz aufsaugende Große Koalition, hat eine Situation geschaffen, in der scheinbar nichts anderes übrig bleibt als Jamaika. Dass es sich dabei um eine Quadratur des Kreises handelt, zeigen bereits die Konflikte der Koalitionsverhandlungen, bei denen jede scheinbare Einigung durch unterschiedliche Lesarten wieder aufgehoben wird. Ganz im Gegensatz dazu nimmt die Akzeptanz von Jamaika in den Umfragen zu. Die Leute wollen endlich eine Regierung. Claus Leggewie bemüht sogar den Staatsnotstand,[1] um Jamaika alternativlos zu finden. Als gebe es nicht die viel bessere, weil demokratischere Lösung durch die Bildung einer Minderheitsregierung.
Noch fataler als das Schönreden der antagonistischen Jamaika-Koalition ist freilich der Grabgesang auf das rot-rot-grüne Projekt. Wer sich darauf einlässt, bestätigt lediglich das Wunschdenken der konservativen Mitte, die inständig hofft, mit der Integration der Grünen auf Dauer das bürgerliche Lager zu festigen. Die Rechnung kann, muss aber nicht aufgehen, wenn das rot-rot-grüne Projekt vom Kopf auf die Füße gestellt wird. Wen es sich nicht mehr auf die Eroberung von Regierungen konzentriert, sondern zunächst einmal um die Eroberung der Meinungsführerschaft im Alltag kämpft.
[1] Claus Leggewie, Adios Rot-Rot-Grün?, Blätter für deutsche und internationale Politik 11/17
Marx hat an das Ende des ersten Band des Kapitals ein Kapitel gesetzt, das eigentlich an den Anfang gehört, weil es beschreibt, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Methoden sich der Kapitalismus überhaupt entwickeln konnte. Dass dies zu erklären auch heute noch unverzichtbar ist, hat mindestens zwei Gründe: Erstens zeigt Marx in diesem Text, dass an der Wiege des Kapitalismus nicht Fleiß und Sparsamkeit Pate standen, sondern Raub und Vertreibung und zweitens ist diese so genannte „ursprüngliche Akkumulation“ des Kapitals keine schaurige Geschichte aus dem 17. und 18. Jahrhundert, sondern sie wiederholt sich immer dann, wenn ein Land vom Kapital erobert oder die Entwicklung des Kapitalismus an seine Grenzen zu stoßen scheint. Das war der Fall als nachlassendes Wachstum, Finanzkrisen und sinkende Profitraten in imperialistische Kriege mündeten und das treibt auch heute die neoliberale Globalisierung voran. Selbst linke Globalisierungskritiker erkennen selten, dass es sich bei den zunehmenden kriegerischen Konflikten, der Verarmung ganzer Völker und den anschwellenden Flüchtlingsströmen nicht um vermeidbare Folgen der neoliberalen Globalisierung, sondern um gesetzmäßige Entwicklungen handelt. Sie ähneln auf erschreckende Weise der von Marx beschriebenen und analysierten ursprünglichen Akkumulation.
Als Hans Martin Schleyer am 18. Oktober 1977 von der RAF ermordet wurde, eskalierte ebenso der Terror wie die Reaktion des Staates. Mit Sicherheit wird der 40. Jahrestag dieses Verbrechens Anlass zu allerlei Rückblicken geben, in denen der „Deutsche Herbst“ von 1977 allseits ausgeleuchtet wird. Wie das ausfallen könnte, zeigte bereits ein Kommentar von Bernhard Schulz im Tagesspiegel, in dem uns der Autor Bescheid gibt, dass der Schleyer Mord schon „lange zuvor in den Studentenprotesten der späten 60er Jahre, den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, vor allem der Ablehnung der berüchtigten Notstandsgesetze“ keimte. Man ahnt, was die erinnerungslosen Autoren in den Redaktionsstuben erst von sich geben werden, wenn in einigen Monaten an den 50. Jahrestag der Schüsse auf Rudi Dutschke, die daran anschließenden Proteste gegen den Springer-Konzern und an die so genannten Osterunruhen erinnert wird. Medienleute die sich an ihre eigenen 68er Erlebnisse erinnern können, wird es nur noch sehr wenige geben, dafür aber jede Menge Bescheidwisser, die nur wissen, was man schon immer über 68 zu wissen glaubte.
So unsicher und unkalkulierbar die Weltlage auch sein mag, in Deutschland geht alles seinen gewohnten Gang, was auch für die anstehende Bundestagswahl gilt. Eher geht ein Kamel durch das berühmte Nadelöhr, als dass Martin Schulz ins Kanzleramt kommt. Sieht man einmal vom millionenfachen Betrug der Automobilindustrie ab, scheint es hierzulande keinerlei Aufreger zu geben. Die Arbeitslosenzahlen sinken ebenso quartalsmäßig, wie das Bruttosozialprodukt gewohnheitsmäßig steigt und Schäuble genießt zufrieden grinsend den deutschen Alleinvertretungsanspruch auf die schwarze Null. Nach dem 24. September wird deshalb alles so bleiben wie es ist oder es kommt wie es schon mal war. Man sieht es Angela Merkel an, dass sie das weiß. Locker, selbstzufrieden und konziliant lächelt sie sich durch den Wahlkampf, während die Umfragewerte wie in Stein gemeißelt scheinen. Man ist versucht mit Tucholsky zu fragen: „Liebes Publikum, bis Du wirklich so dumm?“
Als Helmut Kohl starb und bei tagelanger Staatstrauerzeremonien der Eindruck entstand, als habe es nie einen großartigeren deutschen Politiker als ihn gegeben, fielen mir zunächst zwei Dinge ein: Erstens die endlose Zahl von Kohl-Witzen und zweitens der allmächtige Ruf „Kohl muss weg“. Was die Witze angeht, so steht Helmut Kohl noch heute in meinem Bücherregal – als liegender Gartenzwerg und was den mächtigen Ruf „Kohl muss weg“ von 1998 betrifft, so muss man wohl auch daran denken, dass Kohl nicht nur 16 Jahre Bundeskanzler, sondern auch 27 Jahre CDU-Parteivorsitzender war. Beides Rekordzahlen, die in den vergangenen 100 Jahren kein deutscher Politiker zu bieten hatte. Grund genug also das Phänomen Kohl mal aus einer anderen Perspektive zu betrachten.
Was war Amerika doch entsetzt, als mit Trump ein rassistischer Sexist und islamfeindlicher Haudrauf ins Weiße Haus einzog. Helle Empörung, dass er eine Mauer zwischen den USA und Mexiko errichten wollte und erschrocken nahm man zur Kenntnis, dass er aus dem Klimaabkommen aussteigen will. Doch die Demonstrationen der Frauen sind Vergangenheit und kaum jemand empört sich noch öffentlich über den Ausstieg aus dem Pariser Abkommen. Aber jetzt wird es eng für ihn, die Medien, die Geheimdienste und natürlich die Justiz haben eine Treibjagd begonnen, die offensichtlich in ein Amtsenthebungsverfahren münden soll, weil er unsittliche Beziehungen zu Russland haben soll, während man es völlig normal findet, dass er den Saudis milliardenschwere Rüstungspakete verkauft, als hätte die Golfregion davon nicht ohnehin schon zu viel. Aber offenbar kann sich Amerika leichter an einen Sexisten oder Rassisten im Weißen Haus gewöhnen, als an einen Präsidenten, dessen Mitarbeiter anstößige Beziehungen zu Putin gepflegt haben sollen.
>>> lesen
Lange her, dass das Thema soziale Gerechtigkeit Schlagzeilen machte und es die SPD zum Schwerpunkt eines Bundestagswahlkampfes erhob. Martin Schulz wagte es, erhielt bei seiner Nominierung zum Spitzenkandidaten dafür 100 Prozent der Stimmen und katapultierte die Sozialdemokraten in den Umfragen an der Union vorbei in den 30-Prozent-Bereich. Plötzlich gab es Tausende von Parteieintritten und erstmals im Land wieder eine Wechselstimmung. Der Schulzzug nahm kräftig Fahrt auf, auch wenn der Lokführer erstaunlich wenig über seine Fracht zu sagen hatte. Nur acht Wochen später macht sich Katzenjammer breit. Drei Landtagswahlen verloren und vom Schulzeffekt mag im Willy Brandt Haus niemand mehr reden. Auch nicht mehr von sozialer Gerechtigkeit übrigens, denn die neue Sprachregelung heißt jetzt „Zukunft in Gerechtigkeit“. Zwar muss die Öffentlichkeit immer noch auf Konkretes warten aber die ersten Versuche des Kanzleramtanwärters, seine Gerechtigkeitsvorstellungen unter die Leute zu bringen, sind mindestens enttäuschend. Das hatten wir alles schon mal, nämlich in Schröders Agenda 2010.
Vom Rassisten zum Russlandfreund
Was war Amerika doch entsetzt, als mit Trump ein rassistischer Sexist und islamfeindlicher Haudrauf ins Weiße Haus einzog. Helle Empörung, dass er eine Mauer zwischen den USA und Mexiko errichten wollte und erschrocken nahm man zur Kenntnis, dass er aus dem Klimaabkommen aussteigen will. Doch die Demonstrationen der Frauen sind Vergangenheit und kaum jemand empört sich noch öffentlich über den Ausstieg aus dem Pariser Abkommen. Aber jetzt wird es eng für ihn, die Medien, die Geheimdienste und natürlich die Justiz haben eine Treibjagd begonnen, die offensichtlich in ein Amtsenthebungsverfahren münden soll, weil er unsittliche Beziehungen zu Russland haben soll, während man es völlig normal findet, dass er den Saudis milliardenschwere Rüstungspakete verkauft, als hätte die Golfregion davon nicht ohnehin schon zu viel. Aber offenbar kann sich Amerika leichter an einen Sexisten oder Rassisten im Weißen Haus gewöhnen, als an einen Präsidenten, dessen Mitarbeiter anstößige Beziehungen zu Putin gepflegt haben sollen.
>>> lesen
Nichts scheint für die marxistische Theorie heute wichtiger und gleichzeitig schwieriger, als neue Antworten auf die alte Klassenfrage zu finden. Und das gilt nicht nur für die Analyse der ausdifferenzierten Klassenstruktur in den entwickelten kapitalistischen Ländern, sondern mehr noch für die Widersprüche zwischen den Klassen des reichen Nordens und dem erdrückend armen Rest der Welt. Wobei die „Klasse gegenüber dem Kapital“, wie Marx sie nannte, eine relativ abstrakte, empirisch beschreibbare Angelegenheit ist. Es handelt sich formal um Menschen, deren Arbeit direkt oder indirekt den Mehrwert des Kapitals produziert. Doch erst wenn sie sich dessen bewusst sind, sich auch als Klassenangehörige begreifen, ihren Standort in der Gesellschaft verstehen und Schussfolgerungen daraus ziehen können, sind sie bei Marx eine Klasse, nämlich eine „Klasse für sich selbst“. Der Unterschied war solange ein geringes Problem, wie die Klassenunterschiede noch sinnlich erfahrbar waren. Heute aber ist die „Klasse gegenüber dem Kapital“ aber auch die Klasse der Kapitaleigner so sehr differenziert, dass sich immer weniger Menschen als Angehörige einer Klasse verstehen können. Noch komplizierter ist jedoch die Klassenfrage im globalisierten Kapitalismus, weil sich im Süden eine rasant wachsende Arbeiterklasse herausbildet, die in scharfer Konkurrenz zu den etablierten Klassen des Nordens steht. Es gilt aber auch das Gegenteil. Die Lebensweise des entwickelten Nordens und mit ihr auch dessen Arbeiterklassen, profitieren nicht nur von der Ausbeutung der südlichen Hemisphäre, sie haben ebenso deren Klima- und Hungerkatastrophen zu verantworten und tragen die Mitschuld an den zunehmenden militärischen Auseinandersetzungen.
Kriminalisten pflegen bei der Aufklärung eines Verbrechens als erstes zu fragen, wer von dem Verbrechen profitiert. Im Fall des verbrecherischen Giftgaseinsatzes in Syrien scheint das niemand zu interessieren. Stutzig macht auch das erinnerungslose Vergessen der Medien, was die Auslösung des Irak-Krieges betrifft. War da nicht auch von Giftgas die Rede, das angeblich durch Luftaufnahmen bewiesen war und sich nachträglich, wenn schon nicht als Lüge, so doch als Irrtum herausstellte? Tony Blair hat sich später dafür entschuldigen müssen? Wer wird sich entschuldigen, wenn mit Syrien genau das passiert, was der Irak bis heute erleidet?
lesen >>>
Jetzt wissen wir es endlich, worum es im kommenden Bundestagswahlkampf zwischen Angela Merkel und Martin Schulz gehen wird: „Die Sozialdemokraten“, so Merkel auf dem CDU-Parteitag in NRW, „sind in der Vergangenheit verfangen. Sie reden über Gerechtigkeit, aber vergessen, dass Gerechtigkeit ohne Innovation nicht klappt.“ Hört sich ebenso schön an, wie es schön falsch ist. Im Kern geht es um nichts anderes, als um das Auslegungsmonopol für die Agenda 2010. War sie eine Innovation für mehr soziale Gerechtigkeit oder hat sie das Gegenteil bewirkt? Martin Schulz wird es schwer haben, wenn er selbst dabei bleibt, Schröders Agenda als im Grundsatz richtig, aber für korrekturbedürftig zu verkaufen. Denn der Trick der Bundeskanzlerin hat es in sich, weil sie den Grundkonflikt der SPD thematisiert. Die Sozialdemokraten inszenieren sich als Partei der sozialen Gerechtigkeit und halten an einem Modernisierungs- und Innovationsverständnis fest, das den Sozialstaat der Standortkonkurrenz unterordnet. Zusammen mit der Union beteiligte sich die SPD zwei Jahrzehnte lang an einem Standortkrieg, der nicht nur im eigenen Land, sondern vor allem in der EU den Tod des Sozialstaats beschleunigt.
Zwar ist nichts für den Kapitalismus typischer, als die permanente Umwälzung seiner technischen und organisatorischen Basis, doch das Konzept „Industrie 4.0“ scheint in dieser Hinsicht alle bisherigen industriellen Revolutionen in den Schatten zu stellen. Vieles davon ist bereits Wirklichkeit aber die Spekulation auf die Zukunft geht weit über die aktuelle Praxis hinaus und produziert jede Menge Mythen, bis hin zum Ende der Lohnarbeit und der Überwindung des Kapitalismus. Anlass genug also, dem Wesen von Industrie 4.0 auf den Grund zu gehen.
Die viel zitierte Unübersichtlichkeit der gegenwärtigen Weltlage betrifft vor allem den Nahe Osten, wo über die Fülle von Nachrichten kaum noch erkennbar ist welche Interessen dort aufeinander prallen. Der isw Report 107/108 schafft da Klarheit und schildert auf nur 13 Seiten faktenreich und obendrein sehr verständlich welche Kräfte und Prozesse zur gegenwärtigen Lage geführt haben.
>>> lesen
Es öffnet sich eine neue Seite mit zwei Links - nur der untere führt zum Text
Schon Marx wusste, dass der Kapitalismus eine wahrhaft revolutionäre Angelegenheit ist. Nichts beim Alten lässt, alle Verhältnisse permanent umwälzt und nichts mehr fürchtet, als die Abwesenheit oder auch nur das Sinken des Profits. Und dieses Rad dreht er umso schneller, aber auch brutaler, je mehr die Masse des Rendite suchenden Kapitals zunimmt und seine Rate sinkt. Es ist lange her, dass Marxisten wie Lenin, deshalb von einem faulenden Kapitalismus sprachen. In Wahrheit fault er nicht dahin, sondern bringt immer wieder Mutationen hervor, die ihm neue Quellen erschließen. Natürlich mutiert er deshalb zum Krieg, einmal weil diser selbst ein aussichtsreiches Geschäftsfeld ist und zum anderen, weil er neue Profitquellen und Absatzmärkte verspricht. Die neueste Mutation aber ist die durch den Neoliberalismus durchgesetzte Finanzialisierung, bei der sich die finanzielle Reichtumsproduktion von der Realwirtschaft zu emanzipieren erscheint. Doch das ist nur der äußere Schein, denn bei näherem Hinsehen verbirgt sich dahinter eine neue Produktivkraft, nämlich die Digitalisierung, mit der sich ganz erstaunliche Märkte schaffen lassen.
Je mehr die Schockwellen schwächer werden, die das Schweriner Wahlergebnis ausgelöst hat, desto mehr muss man der Vorhersage von Angela Merkel Recht geben: Es war eine „Schicksalswahl“ – und das nicht nur für die CDU. Nach der überaus siegreichen AfD, gibt es für die anderen nur noch Verluste - die geringsten für die SPD, die größten für die LINKE. Was sich am Sonntag in Mecklenburg Vorpommern ereignete, wird weniger Folgen im Bundesland selbst haben, als in der Bundesrepublik insgesamt, weil sich die politische Landschaft durch das Schweriner Wahlergebnis in vielerlei Hinsicht verändert hat. Erstens hat es in Deutschland noch nie eine neue Partei geschafft, die Kanzlerpartei mit 20,8 Prozent in den Schatten zu stellen. Und zweitens hatte Seehofer noch nie größere Chancen als jetzt, der CDU seine politische Richtung aufzuzwingen. Beides zusammen droht, vor allem ein Jahr vor der Bundestagswahl, die politische Achse nach rechts zu verschieben, wovon wiederum die AfD profitieren wird. Und was die Niederlage der LINKEN betrifft, so ist nicht nur der zahlenmäßige Absturz dramatisch, sondern mehr nur seine Ursachen.
In kurzen Abständen hat die EU in dieser Woche gezeigt, wozu sie eigentlich gebraucht wird, nämlich nicht nur um Märkte zu öffnen, sondern sie auch zu regulieren. Erst startet die Wettbewerbskommissarin einen Frontalangriff auf Apple und sein irisches Steuerparadies und dann veröffentlicht die Europäische Regulierungsstelle für elektronische Kommunikation eine neue Leitlinie, mit der die Absichten der Internetkonzerne durchkreuzt werden, die Netzneutralität zu beenden und ein Mehrklassen-Netz anzubieten. Auf der einen Seite wären beide Maßnahmen ohne die EU kaum möglich gewesen und andererseits demonstrierte Brüssel mit beiden Entscheidungen ungewollt, weshalb das TTIP verhindert werden muss.
Noch nie in der Menschheitsgeschichte hat sich eine neue Technologie so rasant umgesetzt und so schnell sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse umgewälzt, wie der Computer. Gleichzeitig wurde mit der Digitalisierung sämtlicher geistiger Tätigkeiten in atemberaubender Geschwindigkeit eine Produktivkraft geschaffen, die das menschliche Gehirn zu übertreffen scheint. Und nichts verursacht mehr Spekulationen und Ängste, als die Entwicklung einer „künstlichen Intelligenz“, die den Menschen offenbar zum bloßen Anhängsel einer sich über ihn erhebenden Maschinerie macht. Grund genug also die Angelegenheit aus einer materialistischen und historischen Perspektive zu betrachten.
Mit dem Siegeszug des Rechtspopulismus steht die europäische Linke vor einer doppelten Herausforderung. Einerseits ist die neue Rechte in das linke Wahlpotenzial eingebrochen, liegt in vielen europäischen Ländern bei 30 Prozent und scheint sich auf Dauer etablieren zu können. Anderseits ist die Linke mit einer tatsächlichen Bewegung konfrontiert, die weniger von einer beschreibbaren rechten Vision getrieben wird, als von diffusen Ängsten und Enttäuschungen. Wobei deutlich zwischen den rechtspopulistischen Ideologen und ihrem Wählerpotenzial zu unterscheiden ist. Denn während das Führungspersonal einen sowohl rechtskonservativen, als auch völkischen Gesellschaftsumbau anstrebt und dabei tief in die ideologische Mottenkiste der Nazis greift, wollen die meisten ihrer Anhänger lediglich in eine scheinbar heile Vergangenheit zurückkrebsen.
Es wird der LINKEN nicht helfen, sich auf die Entlarvung der AfD Programmatik und ihrer rassistischen Töne zu konzentrieren, sondern sie braucht eine Strategie zur Rückgewinnung jener verlorenen sozialen Milieus, die von diffusen Ängsten oder tiefen Enttäuschungen beherrscht werden. Keine soziale Angebotspolitik, wie sie Siegmar Gabriel propagiert, sondern eine Strategie der Aufklärung über die Ursachen der Probleme, die den Menschen Angst machen. Es geht in diesem Beitrag deshalb zunächst einmal um ein Verständnis des gesellschaftlichen Bewusstseins von Menschen, die sich von den Rechten angesprochen fühlen. Denn erst wenn man Klarheit über diese Bewusstseinsform und die Motive der AfD-Anhänger hat, lässt sich auch über eine Strategie zur Rückgewinnung verlorener Deutungshoheit reden. Diese Sicht ersetzt keine politikwissenschaftliche Analyse durch die Sozialpsychologie, sondern will diese ergänzen.
Man kann die gegenwärtige Alltagskultur der Postmoderne oder dem Neoliberalismus anlasten, auf jeden Fall aber unterscheidet sie sich gravierend von allen bisherigen Ästhetiken kapitalistischer Modernisierung. Wobei die Anpassung der Menschen an das jeweilige Akkumulationsregime des Kapitals noch nie eine solche Breite und Tiefe erreichen konnte, wie in der neoliberalen Wirklichkeit. In den unterschiedlichsten Wirklichkeitsbereichen verschwinden die Inhalte der Handlungen immer stärker hinter Inszenierungen, die dem Geschehen zwar einen kreativen Anstrich geben, aber austauschbar und inhaltsleer bleiben. Mach was du willst heißt es, sei kreativ und originell, liberal oder konservativ, vor allem aber gebe alles und sei produktiv. Ob Arbeiter und Angestellte, Freelancer oder Unternehmer Wissenschaftler, Politiker und Sportler, sie alle haben sich daran gewöhnt und gewöhnen müssen, ihr Tun zu inszenieren, um kompetent und leistungsstark auf dem Markt in Erscheinung zu treten.
Für den Kapitalismus gibt es so gut wie nichts, woraus sich kein Profit machen lässt. Das gilt auch für die Lieblingsidee aller alternativen und grünen Kapitalismusverbesserer, die Share-Ökonomie: Nicht mehr kaufen oder besitzen, sondern teilen. Vor allem Autos und Wohnungen aber auch Werkzeuge und Dienstleistungen. Doch aus der ökologischen und solidarischen Idee ist längst eine höchst profitträchtige Geschäftsidee geworden, die sich auf wundersame Weise der scheinbar demokratischen und sozialen Netzwerke bedient aber vor allem Milliardengewinne abschöpft. Denn eines ist sicher: Auch der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts kommt nicht ohne ausbeutungsfähige Arbeitskraft auf der einen Seite und Anlage suchendem Kapital auf der anderen aus. Der Share-Kapitalismus demonstriert eindrucksvoll, wie der Neoliberalismus nicht nur soziale Grausamkeiten verursacht, sondern auch im Gewand demokratischer und sozialer Kostüme daherkommen kann.
Am 5. Juni findet in der Schweiz eine Volksabstimmung über fünf Vorlagen statt. Darunter zwei die sich mit der Grundversorgung in Bereichen wie Energie, Verkehr oder Wasser beschäftigen, eine Vorlage, die den Schweizer Kühen das Tragen von Hörnern sichern soll und eine weitere, die die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens verlangt. Das Neue Deutschland scheint sich eher für exotische Themen zu interessieren, weshalb es einen Artikel zu den Schweizer Kuhhörnern veröffentlichte und zum bedingungslosen Grundeinkommen sogar eine ganze Seite reservierte. Was es mit der Forderung zur Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge auf sich hat, hielt die ND-Redaktion offenbar für vernachlässigenswert. Grund genug also, sich einerseits mit der in den Papierkorb gelandeten öffentlichen Daseinsvorsorge und anderseits mit dem ganzseitig gelobten bedingungslosen Grundeinkommen zu befassen.
Die Parteienlandschaft ist kräftig in Bewegung gekommen. Die CSU läuft der AfD hinterher, in der CDU formiert sich eine Anti-Merkel-Front, Gabriel will unter dem Titel „Soziale Gerechtigkeit“ die Probleme lösen, die die SPD unter Schröder selbst geschaffen hat und die FDP ist wieder da wo sie schon mal war. Und fast unbemerkt sind einflussreiche Teile der Grünen dabei, die Partei für „Besserverdienende“ komfortabler zu machen. Wenn dies so gelingt, wie beabsichtigt, dann dürfte dem rot-rot-grünen Projekt für sehr, sehr lange Zeit die Luft ausgehen. Nicht zu letzt auch durch die auf einem Rekordtief angelangte SPD.
...die LINKE steckt in ihrer tiefsten Krise seit sie sich gründete und zwei Jahre später mit 11,9 Prozent in den Bundestag einzog. Inzwischen liegt sie in den Umfragen bei nur noch sieben Prozent und hat rund ein Viertel an Mitgliedern eingebüßt. Grund genug also, dass Katja Kipping und Bernd Riexinger jetzt „Vorschläge für eine offensive Strategie der LINKEN“ ausarbeiten ließen. Wer eine ehrliche, vielleicht sogar selbstkritische Bestandsaufnahme erwartet hatte, dürfte enttäuscht sein.[1] Gleichzeitig darf man von einem Strategiepapier erwarten, dass es nicht nur auflistet, „was“ man erreichen will, sondern vor allem „wie“ es zu erreichen ist. Stattdessen bleibt das Papier bei programmatischen Forderungen stehen und kündet sogar eine „Revolution“ an, was bei der bestehenden Lage wie „Pfeifen im dunklen Walde“ anmutet.
[1] Einen deutlich präziseren und auch analytisch überzeugenden Beitrag zum Thema hat Bernd Riexinger im „Sozialismus“ veröffentlicht, „Welche Strategien braucht die Linke?,“ Heft 5-2016
Seit der Rechtspopulismus zu einem Gattungsbegriff erhoben wurde, lässt sich schwerlich über linken Populismus reden, ohne sich dabei an die Demagogie der AfD oder die dumpfsinnigen Parolen von Pegida zu erinnern. Wobei auch der LINKEN der Populismusvorwurf um die Ohren gehauen wird, was wir ungern hören, wo wir doch mit realitätsnahen und bis ins Detail durchgerechneten Alternativen aufwarten können. Wer sich jedoch hinsichtlich des Populismus Denkverbote auferlegt, ignoriert eine längst überfällige und auch bereits begonnene Debatte[1], über die Erringung ideologischer Hegemonie unter den Bedingungen einer sich immer mehr ausdifferenzierenden Gesellschaft. Möglicherweise kann die Beschäftigung mit dem linken Populismus von Ländern wie Brasilien, Argentinien und Bolivien eine Reihe von Fragen klären helfen, die die traditionelle Klassentheorie bisher nur unzureichend beantwortet hat, nämlich wie aus einer „Klasse gegenüber dem Kapital“ eine „Klasse für sich selbst“ werden kann.
[1] Vergl. dazu: „Warum Populismus“, Ernesto Laclau, Zeitschrift LuXemburg, Berlin Mai 2014
In den 1960er Jahren zog die NPD in fünf Landtage ein und verschwand wieder aus ihnen. Das Gastspiel der Republikaner endete ebenso wie das der DVU kläglich und an die Schillpartei erinnert sich kaum noch jemand. Auch das Schicksal der AfD ist offen, weil ihre Heterogenität diverse Abspaltungen und Neugründungen erwarten lässt. Trotzdem werden wir sie nicht vergessen, weil sie das Parteiensystem mit seinen gewohnten Koalitionen umwälzen wird, die politische Mitte nach rechts verschiebt und sich die AfD, anderes als ihre Vorgängerparteien, zumindest im Osten mit Pegida auf eine außerparlamentarische Bewegung stützen kann. Keine der Bundestagsparteien wird von diesen Umbrüchen unberührt bleiben – auch die LINKE nicht, weil sie das Alleinstellungsmerkmal als Protestpartei verlieren könnte. Die Frage ist deshalb nicht mehr, wie man mit der real existierenden AfG umgehen soll, sondern wie man auf die Tatsache reagiert, dass der Rechtspopulismus eine Massenbasis gewinnen konnte. Denn im Unterschied zu all ihren Vorgängerparteien hat die AfD nicht nur den bekannten rechten Rand mobilisiert, sondern konnte vor allem in der konservativen Mitte, aber auch in den politikverdrossenen Unterschichten Stimmen gewinnen.
Es lässt sich kaum etwas über den geistig-emotionalen Zustand der Anhänger von Pegida oder den Sympathisanten der AfD sagen, wenn man nur auf ihr aktuelles Thema, nämlich die Flüchtlingskrise schaut. Wahrscheinlich ist die Flüchtlingsproblematik nicht mehr als der zentrale Anlass des europaweit zunehmenden Rechtspopulismus, nicht aber seine Ursache. Deshalb wäre als erstes zu fragen, welche Umbrüche in der materiellen Lebenspraxis stattgefunden haben und zweitens welche psychischen Dispositionen dem Rechtspopulismus zugrunde liegen. Zum einen führt deshalb kein Weg daran vorbei, die historischen Vorläufer dieser Bewegungen zu untersuchen und zum anderen wäre zu fragen, welche sozialen Milieus mit welchen Bewusstseinstypen zum Rechtspopulismus neigen.
Eine gewisse Ernüchterung über den Charakter der angeblich sozialen Netzwerke gibt es schon länger, doch seit kurzem häufen sich Anlässe, bei denen sie sich als digitale Müllkippe präsentieren. Hassprediger und Verschwörungstheoretiker haben in den Netzen schon früh ein Medium gefunden, dass auch noch dem letzten Spinner eine Bühne zur Verbreiterung abstruser, abstoßender oder gefährlicher Botschaften bereitet. Spätestens seit der IS seine Hasspropaganda ins Internet stellt und dort „Kämpfer“ rekrutiert, ist der digitale Raum nicht mehr nur eine politische Bühne, sondern auch ein gefährliches politisches Instrument geworden. Es mehren sich die Fälle, wo die Netzkommunikation die politische Stimmung beeinflusst oder sogar die Außenpolitik beschäftigt, wie bei der angeblichen Entführung und Vergewaltigung eines 13 jährigen russlanddeutschen Mädchens. Es stellt sich die Frage, woher die Netze diese Macht bekommen und letztlich auch, weshalb die Rechte davon profitiert, kaum aber die Linke.
Es gibt zwei Tatsachen, die bei der Diskussion über die Flüchtlingskrise regelmäßig unter den Tisch fallen. Erstens, dass das deutsche Flüchtlingsproblem fast schon eine Randerscheinung ist, wenn man an die weltweit 60 Millionen Flüchtlinge denkt und zweitens wie wenig über den Zusammenhang von Flüchtlingselend und kapitalistischer Globalisierung geredet wird. Denn letztendlich verbergen sich hinter sämtlichen Fluchtbewegungen ökonomische Ursachen. Kein Bürgerkrieg in dem es nicht um die Verfügung über wirtschaftliche Ressourcen geht und keine Armutsflüchtlinge im unterentwickelten Süden ohne explodierenden Reichtum im kapitalistischen Norden. Wie groß die globale Ungleichheit inzwischen geworden ist, zeigt nichts besser als die aktuelle Oxfam-Studie, nach der auf unserem Globus nur 62 Superreiche soviel besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.[1] Wobei man darüber streiten kann, welches der größere Skandal ist: Entweder die schreiende Ungleichheit oder, dass es darüber keine öffentliche Empörung gibt - erst recht aber keinen Bezug zur weltweiten Flüchtlingskrise. Wahrscheinlich auch deshalb, weil das Wissen darüber verloren gegangen ist, dass die Explosion des Reichtums zwangsläufig in wachsende Verarmung mündet.
[1] https://www.oxfam.de/presse/pressemitteilungen/2014-01-20-oxfam-globale-ungleichheit-untergraebt-demokratie
Kriege sind in der Regel verbrecherisch oder sinnlos, doch der Krieg gegen den IS ist gleichzeitig ein dummer Krieg. Im Kossovo, in Afghanistan und im Irak wurde die politische Strategie durch eine militärische ersetzt, doch dem Krieg gegen den Islamischen Staat mangelt es sogar daran. Es ist als würde man einen Elefanten durch die Fußgängerzone jagen, um eine Mücke zu fangen. Militärstrategen schätzen, dass zehn Jahre nötig wären, um den IS zu besiegen. Dass dies nicht zu hoch gegriffen ist, beweist der bereits seit 14 Jahre dauernde Afghanistankrieg. Und wie beim Krieg gegen die Taliban wird auch beim Krieg gegen den IS nur eines sicher sein: Tausende Zivilisten werden in diesem dummen und sinnlosen Krieg ihr Leben lassen und von den Überlebenden werden sich ungezählte, traumatisierte Menschen in einer neuen Terrormiliz zusammenfinden.
Will man den Kern der aktuellen Flüchtlingsdebatte freilegen, dann geht es vor allem um Grenzen: Obergrenzen für die Flüchtlingsaufnahme bei den einen, sichere Außengrenzen bei den anderen. Seehofer will Obergrenzen, Merkel will keine Obergrenzen, sondern den Zustrom begrenzen und die SPD will ihn nicht begrenzen, sondern nur reduzieren. Von einem Formelkompromiss zum nächsten driften die herrschenden Parteien immer weiter nach rechts, getrieben vom Dumpfsinn der Stammtische, über die Pegida und AfD längst schon die Lufthoheit besitzen. Immerhin kommt die AfD in Bayern bereits auf zehn und in Ostdeutschland sogar auf 16 Prozent. Doch hinter dem Schrei nach sicheren Grenzen scheint sich mehr zu verbergen, als die Angst vor dem nicht abreißenden Flüchtlingsstrom. Wahrscheinlich sind den Mensche in ihrer Alltagswelt bereits zu viele Grenzen gefallen, auf die sie sich bisher verlassen hatten.
Deutschland geht es gut. Die Arbeitslosenzahlen sind auf dem tiefsten Stand seit zwei Jahrzehnten, das Wirtschaftswachstum ist das stärkste und die Staatsverschuldung die niedrigste im Euroraum. Weshalb wird man trotzdem nicht den Eindruck los, dass das Land in einer Krise steckt? Scheinbar sind es die Flüchtlingsprobleme, die dafür verantwortlich sind, dass es im politischen System knirscht, der Rechtspopulismus zunimmt und die herrschenden Parteien an Akzeptanz verlieren. Man sollte jedoch den Anlass einer Krise niemals für deren Ursache halten. Wobei es weniger um aktuelle Ursachen geht, sondern um Entwicklungstendenzen, aufgestaute Probleme und unkalkulierbare Risiken. Auch die aktuelle Flüchtlingskrise markiert lediglich den Scheitelpunkt eines seit langem stattfindenden Kontrollverlusts der Eliten wie der Massen über die gesellschaftliche Entwicklung. Das Besondere an dieser Krise ist ihre sinnliche Wahrnehmbarkeit und die damit verbundenen sozialpsychologischen Effekte. Was sie übrigens von der mit ungleich größeren Gefahren verbundenen Finanz- und Bakenkrise unterscheidet. Die Flüchtlingskrise hat das Zeug, nicht die ökonomische, wohl aber die soziapsychologische Belastbarkeit der europäischen Gesellschaften zu überschreiten.
Im Chinesischen besteht das Schriftwort für Krise aus zwei Zeichen: Einmal aus dem Zeichen Gefahr und zum anderes aus Gelegenheit. Reden wir also mal über die Chancen, die sich aus der gegenwärtigen Krise ergeben und vergessen vorübergehend den Chaosdiskurs. Denn Tatsache ist, dass die Flüchtlingskrise unzählige Anlässe geschaffen hat, nicht nur über Europa neu nachzudenken, sondern auch den herrschenden Eurozentrismus in Frage zu stellen.
Wer glaubt, dass nur Dumpfbacken gegen Asylbewerber hetzen, sollte die „Junge Freiheit“ lesen. Auf diesem intellektuellen Hinterhof von NPD, AfD und Pegida findet sich ein giftiges Pflänzchen, das allzu sehr an die faschistische Rassenideologie und ihre Verachtung der Menschenrechte erinnert. Ein gewisser Weißmann[1] bemüht sich, die „Duldsamkeit gegenüber der Dekadenz“ der „Migrationsgewinnler“ in der politischen Klasse zu brandmarken und appelliert an den „Selbstbehauptungswillen“ des „weißen Mannes am Anfang des 21. Jahrhunderts“. Dieser historische Krebsgang ist zwar auf seine Weise komisch, hat aber das Zeug zur ideologischen Aufrüstung fremdenfeindlicher Dumpfbacken und der Rechtfertigung rassistischer Gewaltakte.
[1] Junge Freiheit, 20. August 2015
Bis vor wenigen Wochen schien es, als würde die EU an der griechischen Krise scheitern, inzwischen mehren sich jedoch die Anzeichen, dass Europa an seiner Flüchtlingspolitik zerbrechen könnte. Einerseits weil es an einem politischen Konzept zur Bewältigung der Flüchtlingsströme mangelt, mehr noch aber weil die Union noch nie so tief gespalten war, wie gerade in dieser Frage. Hält der Zustrom an, woran kein Zweifel besteht, und werden weder seine Ursachen bekämpft, noch neue Wege in der Migrationspolitik beschritten, dann drohen mindestens drei Gefahren: Erstens die Zunahme rechtsextremer und europafeindlicher Tendenzen, zweitens kommt das Prinzip offener Grenzen unter Druck und drittens die innergemeinschaftliche Solidarität. Denn die Hartleibigkeit, mit der sich insbesondere einige osteuropäische Mitgliedsländer der Aufnahme von Flüchtlingen widersetzen, wirft bei den Geberländern zwangsläufig die Frage nach der Berechtigung ihrer finanziellen Unterstützung auf. Ohne eine europaweit ausgehandelte und auf Integration ausgerichtete Flüchtlingspolitik drohen den Ländern der EU zunehmende interne Konflikte und die europäische Gemeinschaft wird Fliehkräften ausgesetzt, an denen sie tatsächlich zerbrechen kann.
Die unappetitliche bis kriminelle Flüchtlingsfeindlichkeit in großen Teilen der bundesdeutschen Bevölkerung steht in einem krassen Gegensatz zu ihrer eigenen Geschichte. Die angeblich „wahren Deutschen“ übersehen nämlich, oder wollen übersehen, dass dieses Land seit seiner Gründung eine Republik der Flüchtlinge und Einwanderer ist. Insgesamt addiert sich die Zahl der in Folge der Kriegs- und Nachkriegswirren nach Westdeutschland Geflüchteten und Vertriebenen auf etwa acht Millionen. Selbst in Bayern ließen sich in den Nachkriegsjahren 1,7 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene nieder, so dass ihr Anteil an der dortigen Wohnbevölkerung zeitweise 20 Prozent betrug.[1] Damit nicht genug, flüchteten zwischen 1951 und 1989 vier Millionen DDR-Bürger in die BRD, so dass sich die Zahl der bis 1989 nach Westdeutschland, beziehungsweise in die BRD geflüchteten Menschen auf rund 12 Millionen addiert.[2] Rechnet man deren hier geborenen Kinder hinzu, kommt man leicht auf einen Bevölkerungsanteil mit „Flüchtlingshintergrund“ von mindestens 30 Prozent. Doch es geht noch weiter: 2013 zählte das Statistische Bundesamt 15,9 Millionen Einwohner mit Migrationshintergrund, von denen 9,7 Millionen einen deutschen Pass besaßen. Rechnet man diese Zahlen hoch, bezieht also die hier geborenen Flüchtlingskinder mit ein, so besteht die so genannte deutsche Mehrheitsgesellschaft überwiegend aus Menschen mit Flüchtlings- oder Migrationshintergrund. Diesen über 20 Millionen Bundesbürgern, die in den vergangenen fünf Jahrzehnten als Flüchtlinge oder Migranten in die BRD integriert werden konnten, stehen nur 179.000 Menschen gegenüber, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen Asylantrag stellten.
[1] Süddeutsche Zeitung, Internetausgabe,1. März 2015
Wolfgang Schäuble ist im Moment sicherlich der bestgehasste Deutsche – zumindest im Ausland. Als er mit seiner Grexit-Drohung Syriza an die Wand nagelte löste er im Netz den wahrscheinlich größten Shitstorm der letzten Jahre aus. Innerhalb eines Tages erschienen bei Twitter unter dem Hashtag #ThisIsACoup mehrere Hunderttausend wütende Stellungnahmen zu der von Schäuble konstruierten Griechenlanderpressung. Und es geht weiter: Obwohl der Grexit abgewendet scheint, stichelt der Finanzminister weiter und betrachtet dies nach wie vor „für die viel, viel bessere Lösung“[1] Man würde dem deutschen Finanzminister jedoch Unrecht tun, ihn als schlechten Europäer und kaltherzigen Vertreter deutschen Interessen anzuklagen. In der aktuellen Situation hält sich kein anderer europäischer Staatsmann so konsequent an den Geist und die Regularien der EU wie Wolfgang Schäuble. In gewisser Hinsicht muss man ihm sogar dankbar sein, mit welcher Hartnäckigkeit er die ideologischen Schleier eines neoliberalen Projekts herunterreißt, in dem kein Platz für Solidarität aber viel Raum für deutsche Großmachgelüste ist.
[1] Berliner Zeitung, 15. Juli, S.6
Für Syriza aber auch für die gesamte europäische Linke stellen sich nach der Einigung zwischen den Vertretern der griechischen Regierung und den Brüsseler Spitzen zwei Alternativen. Entweder sie stimmen dem Ergebnis zu oder lehnen es ab. Zustimmung heißt natürlich zunächst einmal einer Erpressung zuzustimmen und auch Forderungen zu akzeptieren, die man vorher abgelehnt hat. Lehnt man dagegen den Kompromiss ab, scheint man ein Signal gegen die Austeritätspolitik zu setzen und auf der Seite der Griechen zu stehen, die bei der Volksabstimmung Nein sagten. Doch so einfach stellen sich die Alternativen nicht mehr. Es geht nicht mehr um Ja oder Nein zur erpresserischen Politik der europäischen Institutionen, sondern um konkrete ökonomische und politische Alternativen. Auf der einen Seite ein aus dem Euroraum verstoßenes Griechenland, das in eine soziale und ökonomische Katastrophe schlittert und auf der anderen die zweite Chance für ein in Europa bisher einmaliges linkes Projekt.
Rein logisch betrachtet ist der Vorschlag von Schäuble, Griechenland noch mehr Lasten aufzuladen oder für fünf Jahre den Euro zu entziehen, der reine Wahnsinn. Beide Wege werden Griechenland nicht nur in ein soziales, sondern auch in ein wirtschaftliches Chaos stürzen. Doch, um es mit Shakespeare zu sagen: „Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode“. Schäuble geht es nämlich nicht mehr um die Überwindung der griechischen Krise, sondern um einen finalen Rettungsschuss, mit dem gleich drei Probleme auf einen Schlag gelöst werden sollen.
Sieht man einmal von Dumpfbacken wie Horst Seehofer ab, der angesichts der anschwellenden Flüchtlingszahlen immer noch vor der „Einwanderung in unsere Sozialsysteme“ warnt, scheint sich In der politischen Elite Europas allmählich die Einsicht durchzusetzen, dass man nicht die Flüchtlinge, sondern die Fluchtursachen bekämpfen muss. Womit vor allem der Zerfall von Staaten, Bürgerkriege, Hungersnöte und islamistischer Terror gemeint sind. Bei näherem Hinschauen zeigt sich jedoch, dass dies nicht die Ursachen, sondern bestenfalls die Anlässe der Massenflucht sind. Der eigentliche Grund, vor allem für den Niedergang Afrikas, ist in der neoliberalen Freihandelspolitik und der Raffgier des Finanzkapitals zu suchen, wovon vor allem die EU profitiert. Europa hat Afrika erst hemmungslos ausgeplündert und anschließenden die Leidtragenden ausgesperrt. In der Summe haben die kapitalistischen Hauptländer in der Vergangenheit aus Afrika mehr als doppelt soviel Profit abgezogen, wie sie Entwicklungshilfe leisteten.[1] Wobei auch Letztere weniger den Massen und ihren Lebensbedürfnissen zugute kamen, als aufwendigen Infrastrukturprojekten, die der intensiveren Ausplünderung des Kontinents dienten. Was jedoch keine Entwicklungshilfe mehr wettmachen kann, das ist die großflächige Zerstörung der afrikanischen Zivilisation.
[1] www.paxchristi.de/meldungen/view/5024297840017408/schulden