Über hilflose

Ökonomen

und nicht zuständige

Psychologen

Die Hilflosigkeit der meisten Ökonomen ist seit einigen Monaten zu beobachten und wird nur noch von der Politik übertroffen. Wobei man sich vor allem darüber wundern muss, wie wenige diese Krise kommen sahen und wie sie von Woche zu Woche neue Fehlprognosen in die Welt setzten. Mit dem gleichen Herdenverhalten, das sie in den vergangenen Jahren zur Verbreitung optimistischer Erwartungen trieb, überbieten sie sich seit einigen Monaten mit Negativschlagzeilen. Immer häufiger wird dabei auf die Weltwirtschaftskrise vor 80 Jahren Bezug genommen, ohne sich zu fragen, weshalb man die Lehren aus dieser Krise in den letzten zwei Jahrzehnten so gründlich vergessen hat. Stattdessen wurde so lange von einer „neuen Ökonomie“ fabuliert, bis sich die alte mit brutaler Gewalt zurückmeldete. Das erinnerungslose Vergessen der Ökonomen wird uns teuer zu stehen kommen, denn wie heißt es doch so schön: Wer aus der Vergangenheit nichts lernt, ist zur ihrer Wiederholung verdammt.

Da hilft es auch nicht die Psychologie zu bemühen, denn diese kann zwar nützliche Dienstleistungen erbringen, wenn man den Menschen etwas verkaufen oder sie auf andere Weise an der Nase herumführen möchte, aber ökonomische Prozesse kann sie weder erklären noch gestalten. Diese Nichtzuständigkeit hängt mit der schlichten Tatsache zusammen, dass Wirtschaft zwar von Menschen gemacht wird, die dabei auch ihren Kopf benutzen, dass sich aber der wirtschaftliche Prozess hinter ihrem Rücken vollzieht, was schon Marx feststellen konnte und deshalb von der philosophischen zur ökonomischen Analyse des Kapitalismus wechselte. Denn was jedes einzelne Wirtschaftssubjekt unternimmt, wird von anderen durchkreuzt und am Ende kommt etwas heraus was keiner erwartet hat. Im Prinzip ist dieser hinterrücks ablaufende Wirtschaftsprozess auch den bürgerlichen Ökonomen nicht unbekannt, denn was sich da hinter dem Rücken der Menschen bewegt, das ist der Markt. Er verwandelt die vielen Einzelaktionen der Menschen in einen Strom aus ständigem Kaufen und Verkaufen, der am Ende für die Herausbildung von Durchschnittspreisen und Durchschnittsrenditen führt aber auch die Investitionen steuert. Was dabei völlig hinten runter fällt, sind die unterschiedlichen Interessen und Möglichkeiten der Marktteilnehmer, von denen die bürgerliche Ökonomie nichts wissen will.

Die neoklassische Ökonomie stützt sich auf ein Menschenbild, das erstens keine Klassen zulässt und zweitens unterstellt, dass sich alle Marktteilnehmer in dem Sinne vernünftig verhalten, dass sie zwar ihren eigenen Nutzen mehren wollen, dabei aber einen gewissen Mittelweg zwischen Chancen und Risiken wählen. Dieser „Homo oeconomicus“, wie ihn die neoklassische Ökonomie nennt, ist ein realistischer und überlegt handelnder Mensch. Den Rest aber regelt der Markt, in dem er ebenso Faulheit wie Übertreibung bestraft. So weit die Theorie.

Die Übertreibungen der Menschen und die Blindheit des Marktes

Dass der von der bürgerlichen Ökonomie geschaffene Modellmensch mit der Lebenswirklichkeit nicht übereinstimmt, hätte die Neoklassik von den Psychologen erfahren können und, dass der Markt blind ist, müssten sie eigentlich von ihren klassischen Vordenkern wissen. Der Kapitalismus lebt von Übertreibungen, die der Markt einfach nicht wahrnimmt, sondern verstärkt. Gier und Leichtsinn, was Ökonomen wie Politiker momentan beklagen – und dabei psychologische Begriffe benutzen – ist im Kapitalismus nämlich kein abweichendes Verhalten, sondern die Norm. Wie zitiert doch bereits Marx den britischen Gewerkschafter T.J. Dunnig: „Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehnt Prozent sicher, und man kann es überall anlegen; 20 Prozent es wird waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter den Fuß; 300 Prozent und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst unter Gefahr des Galgens.“ Damit hören die im Kapitalismus gängigen Übertreibungen jedoch nicht auf. Hinzu kommt, dass Menschen mit Kapital nicht nur kühn bis verbrecherisch umgehen, sie stecken sich dabei auch gegenseitig an. Sowohl bei der hektischen Jagd nach sich plötzlich anbietenden Superprofiten, als auch bei der ängstlichen Flucht aus sämtlichen Investitionen. Wäre es anders, gäbe es nicht Krisen wie die gegenwärtige.

Aus sozialpsychologischer Perspektive ist diese Tatsache eine Banalität. Nun haben wir es aber mit einer Krise zu tun, die von den Finanzmärkten ausging und sich zudem in einer globalisierten Wirtschaft und auf einem radikal flexibilisierten und deregulierten Markt abspielt. Aber auch hier kann die Psychologie den Ökonomen etwas erklären, was in ihren theoretischen Modellen nicht vorkommt. Menschen, auch Kapitalisten, sind nämlich nicht nur Wirtschaftssubjekte, sondern Individuen, die bei ihren Handlungen nicht nur an Kaufen oder Verkaufen denken, sondern auch ein gewisses Interesse an der Aufrechterhaltung der Produktionsbedingungen haben. Doch das neoliberale Wirtschaftssubjekt sieht weder die unüberschreitbaren Bedingungen der Produktion, sondern auch nicht was reproduziert werden muss, nämlich das menschliche Arbeitsvermögen, die sozialen oder kulturellen Strukturen, und auch nicht die Bedürfnisse der Natur. Wo der tätige Unternehmer noch eine gewisse Beißhemmung bei der Ausplünderung der Arbeitskraft oder der Naturvernichtung verspürt, spürt der Finanzinvestor überhaupt nichts mehr. Und das ist keine Frage der Moral, sondern der Wahrnehmungsfähigkeit. Die so genannte Finanzindustrie produziert Produkte, denen man ihre Raubzüge und Vernichtungsfeldzüge nicht ansehen kann. Man kann Fonds kaufen oder seiner Bank einfach nur Geld überlassen, ohne im geringsten zu ahnen, dass an der Rendite Blut klebt.

Der auf diese Weise entfremdete Anleger verliert nicht den Blick für die sozialen Grausamkeiten, aus denen seine Rendite stammt, er kann sie überhaupt nicht sehen, weil die Vermehrung seines Geldes als eine Eigenschaft dieses Geldes erscheint. Wir sprechen von Kasinokapitalismus und meinen damit das Spiel an den Börsen, aber die wundersame Geldvermehrung erweckt auch den Eindruck, als sei das ganze tatsächlich ein Lotteriespiel, bei dem der eigene Gewinn aus dem verlorenen Einsatz der anderen Spieler und nicht aus globaler Ausbeutung stammt.

Angesichts der gewaltigen Summen, die gegenwärtig vernichtet oder durch Staatszuschüsse aufgefangen werden, denkt die Öffentlichkeit vor allem an Investmentbanker, Hedgefonds und andere Finanzhaie, nicht aber an deren Auftraggeber. Das große Rad wird aber nicht nur von diesen betrieben, sondern von institutionellen Anlegern hinter den Millionen kleiner oder auch größerer Geldbesitzer stehen. Das private Geldvermögen der Bundesrepublik beläuft sich trotz der im letzten Jahr eingetretenen Verluste immer noch auf 4.490 Milliarden Euro und entspricht damit etwa den Steuereinnahmen des Bundes von 15 Jahren. Dass es sich bei den Beziehern von Vermögenseinkommen um eine einflussreiche Massenschicht handelt, verdeutlicht die letzte Schätzung der super reichen Anlagekunden. Danach besitzen in Deutschland mehr als 765.000 Menschen ein Geldvermögen von mehr als einer Million Euro. Statistisch gesehen kommt auf etwa fünf Arbeitslose ein Millionär. Und diese Massenschicht wird durch Menschen gebildet, die an vorderster Stelle der meinungsbildenden Medien, der Kulturindustrie und staatlichen Apparate stehen. Das heißt, dass ihre Lebensweise die Kultur und das öffentliche Bewusstsein prägt. Sie haben die wundersame und mit keinerlei Anstrengungen oder gar Grausamkeiten verbundene Geldvermehrung zur Normalität gemacht. Dass sich heute ausgerechnet diese kulturelle und politische Elite über die Gier und Verantwortungslosigkeit ihrer Anlageverwalter aufregt, zeugt mindestens von ökonomischer Blindheit, mehr noch aber von Heuchelei.

Die Krise im Alltagsbewusstsein

Natürlich bleibt die entscheidende Frage, wie dieses veränderte gesellschaftliche Denken die Krise verarbeitet. Im Moment sieht es noch so aus, als wäre die Krise zwar in den Medien, nicht aber im Alltagsbewusstsein angekommen. Auf der Brücke der Titanic ist der Eisberg bereits in Sichtweite, aber unter Deck wird noch getanzt. Das zurückliegende Weihnachtsgeschäft verlief erfreulich, der Verbraucherindex legte im Februar sogar noch zu und trägt genau so wenig Krisenspuren, wie die wöchentliche Sonntagsumfrage.

Der Hauptgrund dafür hat weniger mit Psychologie, als mit Ökonomie zu tun. Die Krise hat nämlich zunächst einmal dafür gesorgt, dass sich einige wichtige Güter für die Privathaushalte nicht mehr verteuerten, sondern sogar billiger wurden, wie zum Beispiel die regelmäßige Tankfüllung oder die Wohraumheizung. Gleichzeitig setzt bei einem Konjunktureinbruch der drastische Anstieg der Arbeitslosigkeit immer erst mit einer Verspätung von etwa einem Jahr ein. So dass zum Jahreswechsel noch 54 Prozent der Beschäftigten in einer Allensbachumfrage erklärten konnten, in ihrem Betrieb nichts von der Krise zu spüren.2 In der Industrie schrillen die Alarmglocken, aber die Arbeitslosenstatistik signalisiert bislang Entwarnung. Bislang dominieren die schlechten Zahlen an der Börse, im Wirtschaftsteil und in den Prognosen, von denen die Mehrzahl der Menschen ohnehin wenig versteht. Diese Verzögerung bei der Krisenwahrnehmung hat aber natürlich auch psychologische Ursachen und lässt sich mit der relativen Trägheit des kulturellen und ideologischen Überbaus einer jeden Gesellschaft erklären. Psychologisch gesehen werden Krisensignale vom Bewusstsein sehr schnell wahrgenommen und sie stimulieren auch die Handlungsbereitschaft, wie sich in den vergangenen Monaten an der Flucht aus Aktien und Fondsanteilen ablesen lässt. Wer allerdings nichts in Sicherheit zu bringen hat und auch sonst nicht in der Lage ist, dem angekündigten Unheil mit Vorsichtsmaßnahmen entgegen zu wirken, der neigt zur Verdrängung oder gar zur Überkompensation. Bedrohliche Nachrichten verschwinden inmitten der immer dichteren Alltagsanforderungen oder fallen der medialen Reizüberflutung zum Opfer.

Ohnehin zwingt das Anschwellen der globalen Informationsmasse das Bewusstsein zu einer Notwehrreaktion, in der Informationen unterdrückt oder durch starke Reize überlagert werden. Damit einher geht eine gewisse Banalisierung des Außergewöhnlichen, weil der alltägliche Schrecken über Katastrophen, Terroranschläge und düstere Zukunftsprognosen allmählich den gleichen Rang einnehmen, wie die trivialen Alltagsprobleme. Eine viel zitierte Metapher für diese Situation ist eine Tagebucheintragung von Kafka am Beginn des Ersten Weltkriegs: „Deutschland hat Russland den Krieg erklärt – Nachmittag Schwimmschule.“

Harald Werner 18.03.09

Ein vollständiger und überarbeiteter Aufsatz zu diesem Thema erscheint von mir in der Z Zeitschrfit Marxistische Erneuerung /78


[angelegt/ aktualisiert am  18.03.2009]