Gesellschaftliche Umbrüche, zumal wenn sie ganze Kontinente erfassen, entwickeln eine seltsame Dynamik, die meistens erst im historischen Rückblick sichtbar wird. Erst im Nachherein wird von Revolutionen gesprochen, während die Zeitgenossen von Krisen reden. Im globalen marxistischen Diskurs gibt es dagegen bereits seit Jahren eine materialreiche Debatte über den Niedergang des gegenwärtigen Kapitalismus, ohne dass man sich darüber einig ist, was daraus folgt. Die allgemein herausstechende Gemeinsamkeit in dieser Diskussion, ist die Tatsache des langfristigen Sinkens der Profitrate des Kapitals. Diese beginnt bereits in den früher 1970er Jahren, findet eine Gegenantwort im Neoliberalismus und schließlich wird von großen Teilen des Kapitals versucht, dieser Tendenz durch Geschäfte auf den Finanzmärkten entgegenzuwirken. Denn während die aus der Warenproduktion entstehenden Renditen sinken, lassen sich auf den deregulierten Finanzmärkten geradezu märchenhafte Gewinne erzielen. Eine Zeit lang wurde deshalb sogar von einer „neuen Ökonomie“ gesprochen, die die Finanzinstitute und Regierungen dann zu einer abenteuerlichen Politik veranlasste. Jedes Land wollte zum international agierenden „Finanzplatz“ werden und baute seine eigene „Finanzindustrie“ auf. Dazu mussten Steuern gesenkt und bei den Banken die Sicherungen gelockert werden. Die Industrie, so weit noch vorhanden, musste sich einerseits mit steigenden Aktienkursen für die globalen Shareholder fein machen und andererseits selbst ins Finanzgeschäft einsteigen. Als erstes kamen dabei die Löhne unter Druck, dann die soziale Daseinsvorsorge und schließlich wurde das Tafelsilber der öffentlichen Infrastruktur verscherbelt. Die Ergebnisse sind nicht mehr zu vertuschen. Denn das Platzen der Finanzblasen hat erst die größten Banken der Welt in den Konkurs getrieben, einige Billionen an Verlusten produziert und die Staaten gezwungen, einige Hunderten Milliarden zu ihrer Rettung zusammenzukratzen. Die ersten Länder gingen Bankrott und mussten mit Milliarden aus den noch zahlungsfähigen Ländern am Leben gehalten werden.
Was aus unserer immer noch komfortablen Lage übersehen wird, das sind die globalen Folgen dieser Krise. Und zwar die materiellen, wie auch die sozialpsychologischen. Das größte, und weitgehend ignorierte Drama, spielt sich in den Hinterhöfen der Weltwirtschaft ab. Da ist zum einen die galoppierende Inflation in den Schwellenländern, die durch den Zustrom großer überschüssiger Finanzmassen aus dem Euro- und Dollarraum angeheizt wird und vor allem die niedrigen Einkommen radikal entwertet. Zweitens kommt dann hinzu, dass das überschüssige Kapital in die Spekulation mit Nahrungsmitteln eingestiegen ist, was nicht nur deren Preise hochtreibt, sondern sie auch knapper werden lässt. In den arabischen Ländern, die zu den größten Weizenimporteuren gehören, sind die explodierenden Brotpreise wahrscheinlich ein größerer Anlass für Unruhen, als die seit Jahrzehnten gewohnte Autokratie. Aber die Krise des reichen Nordens produziert im armen Süden nicht nur Hunger, sondern auch Hoffnungslosigkeit. Es schwinden die Aussichten auf ein langsames Aufholen der eigenen Wirtschaft und für wachsende Aufstiegschancen, vor allem für die in der Mehrheit befindlichen Jugendlichen.
Revolutionen sind Umbrüche, die in Sackgassen stattfinden und unberechenbare Wege einschlagen. Wobei deutlich zwischen den auslösenden Anlässen und den eigentlichen Ursachen unterschieden werden muss, denn jede Revolution ist ein kollektiver Lernprozess, der zu immer neuen Zielen treibt, ohne sich mit ihnen zu begnügen. Hinzu kommt, dass sie ansteckend wirken und nicht nur ganze Kontinente erfassen, sondern eine ganze Epoche prägen können. Vieles spricht dafür, dass die Ereignisse in Tunesien und Ägypten auf die gesamte arabische Welt wirken werden. Und auch das bewirken Revolutionen: Sie konstituieren neue Ideologien und Bewegungen, die dem Zeitgeist neue Inhalte geben.
Während die Regierungen noch darüber rätseln, wie sie ihre Schulden bezahlen sollen, wird mit eben diesen Schulden wieder lebhaft spekuliert. Die Banken verdienen nicht nur wieder prächtig, sie gießen auch Öl ins ungelöschte Spekulationsfeuer, um den großen Geldvermögen neue Profitquellen zu erschließen. So stiegen die deutschen Geldvermögen im vergangenen Jahr doppelt so stark wie die gesamte Wirtschaftstätigkeit. Wenn diese neue Blase platzt, und sie wird platzen, werden die Regierungen nicht mehr in der Lage sein - vielleicht mit Ausnahme von China - den eigenen Banken oder notleidenden Nachbarstaaten unter die Arme zu greifen. Wer glaubt, dass die dann platzende Finanzblase vor allem die großen Geldvermögen trifft, unterliegt einem gefährlichen Irrtum. Natürlich werden Milliardäre Milliarden und unzählige Millionäre einige Millionen verlieren, aber ein Blick nach Griechenland und Irland zeigt das eigentliche Problem bankrotter Staaten. Sie müssen den öffentlichen Dienst sowie die Daseinsvorsorge abbauen und Gehälter senken, um neue Kredite zu bekommen, denn nur so lässt sich zumindest eine öffentliche Notversorgung aufrechterhalten und ein Teil der Renten bezahlen. In Deutschland würden unzählige Sparguthaben und Lebensversicherungen entwertet, die Binnennachfrage schrumpfte und die Arbeitslosigkeit kletterte auf bisher unbekannte Höhen.
Über Kommunismus zu reden, ist hierzulande eine problematische Angelegenheit, weil Gegner wie auch die meisten Befürworter darunter eine Realität verstehen, die sich selbst nicht als kommunistisch bezeichnete. Der real existierende Sozialismus war kein realer Sozialismus und erst recht kein Kommunismus, sondern eine antikapitalistische Fehlkonstruktion. Das Problem, über Kommunismus zu reden, besteht aber vor allem darin, dass es gar kein kommunistisches Modell gibt, an dem man sich orientieren oder das man bekämpfen könnte. So schrieben Marx und Engels 1845 in der Kritik der Deutschen Ideologie: „Der Kommunismus ist für uns kein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ In diesem Sinne ist jede Bewegung, die den jetzigen, durch den global agierenden Kapitalismus entstandenen Zustand aufheben möchte, auf ihre Weise eine kommunistische. Ganz egal, wie sie sich auch nennen mag. Was Marx und Engels beschrieben haben, ist radikale Realpolitik und kein irgendwie vorab beschreibbares Gesellschaftsmodell. Aber getreu unserer Gepflogenheit in Begriffen zu denken, muss das Kind natürlich auch einen Namen haben. Die einen nennen es Kommunismus, die anderen, aus Angst vor falschen Assoziationen, lieber Sozialismus oder auch demokratischen Sozialismus und in den arabischen Staaten wird es irgendwann vielleicht einen ganz anderen Namen bekommen.
Harald Werner 1.Februar 2011