Die soziale Frage nicht mit der Sozialpolitik verwechseln

Die soziale Frage oder auch Arbeiterfrage wurde am Ende des 19. Jahrhunderts von Teilen des liberalen Bürgertums und der Kirchen entdeckt, um offensichtliche Missstände zu überwinden und gleichzeitig der Sozialdemokratie das Wasser abzugraben. Dagegen kämpfte die an Marx orientierte SPD nicht allein gegen soziale Missstände, sondern gegen die Verwandlung sämtlicher sozialen Verhältnisse in Tauschverhältnisse. Für sie war das Soziale nicht ein bestimmtes Thema, sondern eine bestimmte Sichtweise auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Ein Analyseinstrument zum Verständnis des damaligen Kapitalismus und kein besonderes Thema. Und nirgendwo war die soziale Zerstörungskraft des damaligen Kapitalismus deutlicher erkennbar, als in den Fabriken und im sozialen Elend der Arbeiterviertel. Aber in jeder Epoche, und gerade auch in der gegenwärtigen, muss die soziale Unverträglichkeit des Kapitalismus an immer neuen, aktuellen Erscheinungen nachgewiesen werden. Heute zum Beispiel an der Abkopplung immer größerer Bevölkerungsteile von der gesellschaftlichen Entwicklung, dem Ersetzen der Demokratie durch den Markt oder der wachsenden Verschwendung ökologischer und materieller Ressourcen. Das sind keine Spezialthemen, die zusätzlich mit der Sozialkritik zu verbinden wären und auch keine Erweiterung unserer „Kernkompetenz“,  sondern Felder auf denen sich unsere Sozialkritik zu bewähren hätte. Macht man dies nicht, geht das ganzheitliche Denken kritischer Gesellschaftsanalyse verloren und verwandelt sich in einen Flickenteppich aus allerlei Problemen, die nebeneinander von allerlei ExpertInnen bearbeitet werden. Die fatale Folge ist ein reiner Überbietungswettbewerb mit den anderen Oppositionsparteien, vor allem den Grünen um die radikaleren Forderungen. Unsere spezifische Sicht auf die Gesellschaft geht dabei verloren, wir werden verwechselbar und unterscheiden uns von den „Mitbewerbern“ nur noch durch ein rotes Häkchen, das wir hier und da anbringen. 

     

Wozu wir eigentlich eine Partei brauchen

Wer  in einem parlamentarischen System Mehrheiten erringen will, braucht eine Partei. Um Interessengruppen zusammenzuführen, parlamentarischen Nachwuchs zu gewinnen und natürlich Wahlkämpfe zu führen. Diesem Zwang unterliegt natürlich auch die LINKE. Aber ursprünglich wurden sozialistische Parteien nicht allein für die revolutionäre oder parlamentarische Machteroberung gegründet, sondern zunächst einmal zur Selbstermächtigung ihrer Mitglieder. Die klassische sozialistische Partei war Selbsthilfeorganisation, kultureller Gegenpol und ein Lernraum, in dem man die Welt verstehen lernte, damit man sie verändern kann. Diese Gesamtheit unterschiedlicher Aufgaben ist bei uns weitgehend durch innerorganisatorische Aufgaben und allerlei Anstrengungen ersetzt worden, unserer parlamentarischen Vertretungen in der Öffentlichkeit zu präsentieren und natürlich die nächsten Wahlen zu gewinnen.

Wenn wir freilich ernsthaft unsere eigene Wirksamkeit betrachten, müssen wir zugegen, dass wir eine hochgradige Stellvertreterpolitik betreiben und den Millionen Armen, dauerhaft arbeitslosen und hoffnungslos ausgegrenzten Menschen nichts anderes zu bieten haben, als das Versprechen, sich um sie zu kümmern. Das Problem ist nur, dass die meisten dies nicht wissen oder nicht interessiert. Sie haben andere Möglichkeiten gefunden, die Ungerechtigkeit und den Irrsinn dieser Welt zu ertragen, nämlich in der Endlosschleife des Fernsehens und in den weltabgewandten Computerspielen. Sie nehmen Politik kaum zur Kenntnis, halten sie seltener noch für beeinflussbar, und gehen vor allem nicht wählen. Unser größtes und eigentliches Potenzial, sind die Nichtwähler und es gibt keine Strategie dies zu ändern.

Unser um sich selbst drehendes Parteileben ist nicht nur für intellektuell anspruchsvolle Zeitgenossen eine Zumutung, es hat auch den weniger Anspruchsvollen wenig zu bieten. Zwar wird momentan, nach den Wahlniederlagen, überall die Notwendigkeit betont, neue Mitglieder zu gewinnen, aber was haben wir eigentlich zu bieten? Verlässt man unsere Mitgliederversammlungen mit dem Gefühl, einen geistig anregenden Abend erlebt zu haben und hat man aufrüttelnde neue Einsichten gewonnen? Erlebt man die Partei, vor allem in den Wohnvierteln, als ein soziales und kulturelles Milieu, das praktische Solidarität bietet, auch den Alltag bunter macht und neue Horizonte erschließt? So lange wir diese Fähigkeiten nicht entwickeln, werden wir weder in den erforderlichen Größenordnungen neue Mitglieder noch neue Wählerinnen und Wähler gewinnen.

 

Die Oppositionsparteien als ein System kommunizierender Röhren

Seit Jahrzehnten werden in der BRD Lagerwahlkämpfe geführt, auch wenn die jeweiligen Lager dies bestreiten. Selbst die LINKE ist Teil eines Lagers geworden und speist ihre Erfolge aus dem Aderlass der SPD. Momentan haben die Grünen Konjunktur und lösen ihren Anti-AKW-Bonus ein – nicht nur zu unseren Lasten, sondern auch der SPD. Würden dagegen Hunderttausende nicht gegen die Kernenergie, sondern gegen Hartz IV auf die Straße gehen, wären zweifellos wir die Gewinner. Es handelt sich um ein System kommunizierender Röhren, bei dem sich nur gewinnen lässt, was die anderen verlieren. Es sei denn, was momentan bei den Grünen geschieht, man bricht ins konservative Lager ein. Dieser Logik folgend, kommen einige auf die famose Idee, wir sollten unsere Angebotspalette erweitern und, wie Rico Gebhardt meint, den Status der „Ein-Punkt-Partei“ überwinden. Diese marktorientierte Angebotspolitik hat nur den entscheidenden Fehler, dass sie uns verwechselbar macht. Hat dieses Land nicht ohnehin schon genügend Politiker, die sich bei ihrer Themenwahl vom demoskopisch ermittelten Zeitgeist leiten lassen?  Würde sich die LINKE tatsächlich daran orientieren, was aktuell Konjunktur hat und die Leute gerade interessiert, müsste sie wahrscheinlich die meisten ihrer Alternativen über Bord werfen. Letztlich gibt es für die LINKE nur einen Weg, sich neue Potenziale zu verschaffen, sie muss die Entpolitisierung der Modernisierungsverlierer aufbrechen. Nämlich durch niedrigschwellige Politikangebote und stabile Alltagskontakte, vor allem aber durch die Erhöhung ihrer Handlungsfähigkeit. Wer glaubt, dass dies ein Gegensatz zur Erhöhung unserer geistig-kulturellen Ausstrahlung ist, der irrt gewaltig. Die sozialistische und kommunistische Linke hat zu allen Zeiten die intellektuellen und kulturellen Eliten nur dadurch für sich gewonnen, dass sie eine Brückenfunktion zwischen der ästhetischen und der sozialen Transformation der Gesellschaft herstellen konnte.

Harald Werner 12.April 2011    


[angelegt/ aktualisiert am  12.04.2011]