Der

Mindestlohn

und das

Grundgesetz

Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und die Unantastbarkeit der Marktkräfte für höchste Staatsziele zu halten, dass wir uns gar nicht mehr  fragen, ob dies überhaupt eine Staatsangelegenheit ist. Wer es wissen will, sollte im Grundgesetz nach einer entsprechenden Formulierung Ausschau halten. Er wird vergeblich suchen. Wer es freilich genauer wissen will, sollte sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Juli 1954 zum Investitionshilfegesetz der Adenauerregierung ansehen. Das Urteil kam auf Grund der Klage verschiedener Firmen zu Stande, die im Investitionshilfegesetz einen Angriff  auf die unternehmerische Freiheit,  eine Beschränkung der Eigentumsfreiheit und einen Verstoß gegen die freie Marktwirtschaft sahen. Man könnte dies als den berühmten Schnee von gestern betrachten, wenn die Bundesverfassungsrichter nicht gleichzeitig sehr grundsätzlich zur Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland Stellung bezogen hätte:

 „Die gegenwärtige Wirtschafts- und sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keinesfalls aber die allein mögliche. Sie beruht auf einer vom Willen des Gesetzgebers getragenen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidung, die durch eine andere Entscheidung ersetzt oder durchbrochen werden kann. Daher ist es verfassungsrechtlich ohne Bedeutung, (…) ob das zur Wirtschaftslenkung verwandte Mittel `marktkonform`ist.“[1]

Die Verfassungsrechtler sprechen deshalb davon, dass das Grundgesetz „wirtschaftsneutral“ ist. Die Verfassung lässt nicht nur Formen der Wirtschaftslenkung zu, die die Marktgesetze einschränken, sie lässt auch eine gänzlich andere Wirtschafts- und sozialordnung zu.

Die "wirtschaftspolitische Neutralität" des Grundgesetzes besteht lediglich darin, daß sich der Verfassungsgeber nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden hat. Dies ermöglicht dem Gesetzgeber die ihm jeweils sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik zu verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz beachtet.“

Eingriffe in das Marktgeschehen werden von den Bundesverfassungsrichtern grundsätzlich für eben so für normal gehalten, wie die Verabschiedung von Gesetzen, die im Interesse bestimmter Gruppen liegen – zum Beispiel das Interesse von 2,5 Millionen Beziehern von Armutslöhnen an einem existenzsichernden  Mindestlohn.

"Dabei ist zu berücksichtigen, daß jede Wirtschaftslenkungsmaßnahme, indem sie gestaltend in den Ablauf des sozialen Lebens eingreift, das freie Spiel der Kräfte mehr oder weniger korrigiert. Das schließt grundsätzlich auch die Möglichkeit ein, Gesetze im Interesse einzelner Gruppen zu erlassen."

Von neoliberaler Seite wird dagegen angeführt, dass das Grundgesetz auch die Freiheit des Individuums und damit die des Unternehmers schützt. Dazu aber sagt das Bundesverfassungsgericht:

„Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten (…) Dies heißt aber: der Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens…“ zieht.

Selbst das im Artikel 14 des Grundgesetzes geschützte Eigentumsrecht wird nicht ohne Einschränkungen gewährt. Die Nutzung des Eigentums wird nämlich von der Verfassung an die Voraussetzung geknüpft, dass „sein Gebrauch (..) zugleich dem Wohle der Allgemeinheit“ dient. Dient es dem Wohle der Allgemeinheit muss man fragen, wenn jemand mit seinem Eigentum Arbeitsplätze vernichtet oder es durch Armutslöhne vermehrt? Das Eigentumsrecht der Besitzer verpflichtet den Staat auch nicht auf deren Wettbewerbsfähigkeit Rücksicht zu nehmen. So wurde von den Klägern gegen das Investitionshilfegesetz eingewendet, dass damit die Liquidität einzelner Betriebe gefährdet würde. Der gleiche Einwand also, der auch gegen den gesetzlichen Mindestlohn vorgebracht wird. Das Bundesverfassungsgericht aber entschied:

„Die Liquidität eines Betriebes ist zwar eine "wirtschaftliche Position", aber kein selbständiges Recht; die Frage der Eigentumsgarantie kann daher überhaupt nicht aufgeworfen werden.“

Das heißt die Inhaber von Unternehmen besitzen selbst dann kein Recht auf staatlichen Schutz vor Konkursen, wenn dieser durch eine gesetzlich auferlegte Last  zu Stande kommen würde. Die Kläger hatten aber gleichzeitig bemängelt, das Gesetz „verstoße gegen das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, weil es sie in ihrer freien Unternehmerinitiative beschränke.“ Wobei sie sich auf den Artikel 2 des Grundgesetzes beziehen, worin es heißt: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, sowie er nicht die Rechte anderer verletzt…“ Der gleiche Vorwurf wird natürlich auch heute jeder Maßnahme gemacht, die auf irgendeine Weise in das unternehmerische Handeln eingreift. Die Entgegnung hat wiederum so grundsätzlichen Charakter und gilt damit auch für ein Mindestlohngesetz, so dass ch im Zitat der Verfassungsrichter das Wort „Investitionshilfegesetz“ einfach durch „Mindestlohngesetz“ ersetzt habe.

„Sieht man in Art. 2 Abs. 1 GG nur den Schutz eines Mindestmaßes menschlicher Handlungsfreiheit, ohne das der Mensch seine Wesensanlage als geistig-sittliche Person überhaupt nicht entfalten kann, so ragt das Mindestlohngesetz in diesen Bereich nicht hinein, denn die eigenverantwortliche freie Unternehmerpersönlichkeit wird durch das Mindestlohngesetz nicht berührt.“

Andrerseits kann diese Definition des Bundesverfassungsgerichts natürlich auch auf die mindestens 2,5 Millionen Menschen bezogen werden, die zu Armutslöhnen unterhalb des Existenzminimums arbeiten müssen. Für sie geht es tatsächlich um den Schutz eines Mindestmaßes menschlicher Handlungsfreiheit, ohne das der Mensch seine Wesensanlage als geistig-sittliche Person überhaupt nicht entfalten kann..“

Harald Werner, 20. September 07

 


[1] DFR – BverGE: 4,7 - Investitionshilfe


[angelegt/ aktualisiert am  20.09.2007]