Wo liegt die Grenze zwischen

öffentlicher Aufklärung

und

privater Ausspähung?

Um keinen Irrtum aufkommen zu lassen, die Stasi war ein staatliches Unterdrückungsinstrument mit zweifelhaften Methoden und eindeutigen Absichten. Wer aber in diesem Zusammenhang auf die Akten von Verfassungsschutz und BND verwies, musste sich bisher gefallen lassen, als Verteidiger der Stasi bezeichnet zu werden. Dabei könnten ich mich und einige Tausend  anderer Berufsverbotsopfer tatsächlich glücklich schätzen, wenn wir zu einer Verfassungsschutzunterlagen-Behörde gehen könnten, um einfach mal unsere  Akte einzusehen. Deshalb sollte man bei aller berechtigten Empörung über die Arbeit der Stasi nicht vergessen, dass derlei überall üblich ist. Millionen Botschaftsangehörige sämtlicher Länder, ungezählte Journalisten  und informelle Mitarbeiter verfassen geheime Dossiers über Gespräche mit Politikern, Managern und anderen Entscheidungsträgern, ohne dass die Betroffenen wissen, dass sie gerade einen Nachrichtendienst füttern. Im Falle der USA ist nun erwiesen, dass die Anweisungen dafür aus der obersten Staatsebene kamen und die Zuträger beim Verfassen ihrer Berichte nicht gerade zimperlich waren. Im Privaten würde man derlei  als bösartigen Klatsch bezeichnen.

Natürlich hat Wikileaks auch eine aufklärerische Funktion, wenn zum Beispiel staatliche Verbrechen ans Licht der Öffentlichkeit kommen. Aber welche aufklärerische Wirkung hat es, wenn man erfährt, dass an Merkel  alles wie an Teflon abtropft oder Westerwelle jähzornig ist. Erstens braucht es dazu keines Wikileaks und zweitens ist das kein investigativer Journalismus, sondern Boulevardklatsch. Dabei könnte man es bewenden lassen, würde  Wikileaks damit nicht die Grenze zwischen Aufklärung und Klatsch überschreiten. Wird diese Grenze verwischt und die Enthüllung eines Kriegsverbrechens bekommt den gleichen Stellenwert wie die persönliche Bloßstellung eines Regierungsmitglieds, dann führt das notwendigerweise zur Verniedlichung der Kriegsverbrechen. Ein Medium, das bei  seinen Enthüllungen keinen Unterschied zwischen politischer Kriminalität und Politklatsch  macht, ist auf dem besten Weg zur Regenbogenpresse.

Nicht weniger problematisch ist der von solchen „Enthüllungen“ ausgehende Gewöhnungseffekt. Wenn wir es normal oder sogar begrüßenswert finden, dass Internetplattformen vertrauliche Gespräche veröffentlichen, egal von wem auch immer, dann werden wir uns auch daran gewöhnen müssen, dass unsere eigene Privatsphäre abgeschöpft wird. Google und andere Plattformen haben damit bereits begonnen. Wikileaks ist mit der Veröffentlichung vertraulicher Gespräche auf dem besten Wege, das Vertrauen in den Schutz persönlicher Meinungsäußerungen zu untergraben. Wobei die Politik mit Sicherheit  Mittel und Wege finden wird, ihre Daten zu schützen, während der Normalbürger immer mehr zum gläsernen Menschen wird.  

Harald Werner 2. Dezember 2010


[angelegt/ aktualisiert am  02.12.2010]