Wenn mich momentan jemand fragt, wie das denn so war, damals 68, und was heute anders ist in der linken Politik, antworte ich meistens: „Es war alles nicht so ernst damals, aber es hat Spaß gemacht – heute ist alles viel ernster und macht weniger Spaß.“ Das ist ein netter und auch nicht ganz falscher Aphorismus, trifft aber den Kern der Ereignisse eben so wenig wie die Rede vom Mythos 1968. In Wahrheit verbarg sich unter der schillernden Oberfläche eine subversive Tiefenströmung, von der man auch heute noch etwas ahnen kann, wenn man erlebt, mit welchem Eifer dieser Aufbruch in ein Happening oder einen dramatischen Irrtum umdefiniert wird. Welche Unruhe treibt wohl diejenigen, die noch 40 Jahre später in Berlin gegen eine „Rudi-Dutschke-Straße“ Sturm laufen oder ungezählte Sonderseiten füllen, um die Ereignissen von 1968 auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern? In Anlehnung an ein berühmtes Zitat könnte man sagen: Die Visionen von 1968 sind unzählige Male für tot erklärt worden, aber die das taten, schlafen unruhig.
Deutschland ist kein Land der geglückten Revolutionen, von denen Nationalfeiertage leben, obwohl es an revolutionären Ereignissen selbst keinen Mangel hat. Sie endeten entweder tragisch oder peinlich, wie etwa 1989. Ganz anders 1968. Das war weder tragisch noch peinlich, sondern es hat, nach dem die irrlichternden Ereignisse verschwunden waren, dieses Land auf eine Weise verändert, dass man es nachträglich als sein eigenes annehmen konnte.
Ich arbeitete damals als Redakteur einer Regionalzeitung in einem unbedeutenden, von Industriearbeiterschaft geprägten Provinznest, das Helgoland näher als den „revolutionären“ Zentren in Berlin oder Frankfurt war. Ich war Juso-Unterbezirksvorsitzender, Gewerkschaftsaktivist und bemühte mich gemeinsam mit Berliner SDS-Genossinen und Genossen Auszubildende, die damals noch Lehrlinge hießen und in der IG Metall organisiert waren, in Seminaren das Kommunistische Manifest zu erschließen. Das hat uns allen richtig Spaß gemacht, weil wir nebenbei illegal die Pille vertrieben, auch ihre Wirkung ausprobierten und zwischendurch schwarzen Afghan rauchten oder die Internationale sangen. Die Onkels von der illegalen KPD fanden das gut, versorgten uns mit Lesestoff und nahmen es klaglos hin, wenn wir Walter Ulbricht nur komisch fanden.
Ungefähr 1967 gründeten wir, wie unzählige andere damals, in unserem Provinznest einen Republikanischen Club, berieten Wehrdienstverweigerer, organisierten so etwas wie antiautoritäre Vorschulerziehung und lasen einmal in der Woche abends das Kapital. Es kamen Gymnasiasten und Lehrlinge sowie ein friedensbewegter Pastor und ein erster Bevollmächtigter der IG Metall, der uns mit den Widerwärtigkeiten der Notstandsgesetze vertraut machte. Und wir pilgerten nach Berlin, um uns mit Raubdrucken von Fromm und Marcuse zu versehen oder in Ost-Berlin für billige DDR-Mark Marx und Engels einzukaufen.
Man kann davon ausgehen, dass Ähnliches im ganzen Land passierte. Unzählige Studenten, Lehrlinge und Gymnasiasten steckten sich Mao-Abzeichen an die Jacke, ließen die Bärte wie die Haare wachsen, lasen sich quer durch sämtliche revolutionäre Theorien und übten sich in Schulen oder Lehrwerkstätten im antiautoritären Ungehorsam. Es war eine Tiefenströmung, die weder der SDS noch irgendjemand anderes hätte organisieren können, weil ihre Stärke gerade in der Kreativität des Selbsterfindens lag. Sicher, es gab auch Voraussetzungen, objektive, durch das Ende der Nachkriegsepoche geschaffene und sich als kulturelle Revolte geltend machende Bedingungen, und nicht zu letzt ein ökonomischer Umbruch, der nach gesellschaftlicher Modernisierung verlangte. Nicht zu vergessen der Aufschwung nationaler Befreiungsbewegungen und das Vietnam-Desaster der USA. Ein fast schon globaler Humus, der in vielen Ländern sehr vielfältige Aufbrüche verursachte.
1968 war ein faszinierendes, ein irres Jahr: Der große Vietnam-Kongress in Berlin, Vietnam-Demonstrationen in fast allen größeren Städten, die Schüsse auf Rudi Dutschke, brennende Springer-Autos, die seit Jahrzehnten größte Demonstration im Bonner Hofgarten, brennende Barrikaden in Paris, Martin-Luther-King und John F. Kennedy werden 1968 ermordet, sowjetische Truppen beenden den Prager Frühling und in Berlin scheißt der Kommunarde Karl-Heinz Pawla bei einer Gerichtsverhandlung in die Akten. All das ist unzählige Male dokumentiert und kommentiert worden und all das war 1968 und war es gleichzeitig nicht. Fast jede Stadt, jede Universität und viele Gymnasien oder Berufsschulen hatten ihre eigenen spektakulären Aktionen, Aktionszentren und selbsternannten Revolutionäre. Es war ein geistig kultureller Flächenbrand ohne die Verwendung von Brandbeschleunigern und ohne namhaft zu machende Brandstifter. Es gab ausreichend Material für eine Selbstentzündung: Der Mief des CDU-Staates, der Polizeiüberfall auf die SPIEGEL-Redaktion, die erste Wirtschaftskrise des Wirtschaftswunderlandes und ein Bundespräsident, der Pläne für den Bau von KZ´s entworfen hatte. Man musste keine Rede von Dutschke gehört haben, um die Haltlosigkeit der Zustände und die zweifelhafte Moral der herrschenden Eliten zu begreifen.
Nach 1968 gab es andere Hochschulen, neue Erstsemester, andere Lehrinhalte und nicht zu letzt, was am wenigsten Erwähnung findet, es gab auch andere Gewerkschaften. Überall hatten sich Lehrlingszentren gebildet und insbesondere die Marxisten unter den akademischren Akteuren strömten in die gewerkschaftliche Bildungsarbeit, um der Arbeiterklasse auf die Sprünge zu helfen, was bei den Jüngeren schon deshalb auf fruchtbaren fiel, weil es nicht nur Marx und Engels zu lesen, sondern auch ein neues Lebensgefühl zu gewinnen gab. Gleichzeitig verlangte der sich in den 60er Jahren rasant modernisierende Kapitalismus nach wissenschaftlichem Nachwuchs, es wurden neue Universitäten gegründet, der Hochschulzugangochschulzugang Hochschulzugang erleichtert und das kreditlose Bafög eingeführt, was zu einem sprunghaften Anstieg studierender Arbeiterkinder führte. Sehr viele davon kamen über den zweiten Bildungsweg, brachten Berufs- und Gewerkschaftserfahrung mit und landeten zum größeren Teil in den linken Studentenverbänden. Die Spätfolgen zeigten sich Ende der 70er und in den 80er Jahren, als nicht nur eine neue Generation von Sekretären mit akademischem Titel in die Gewerkschaftsbüros, sondern auch in die Vorstände einzog. Was vor allem daran lag, dass zum Beispiel die Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg oder die neu gegründeten Reformuniversitäten bis in die späten 80er Jahre hinein eindeutig gewerkschaftsorientiert waren.
Überhaupt muss eine realistische Beurteilung der Ereignisse von 1968 weniger das Jahr selbst, als die 70er Jahre in Augenschein nehmen. Denn die 60er Jahre endeten für die Akteure zunächst mit einem Katzenjammer. Der Kampf um die Notstandsgesetze ging verloren, der SDS fiel erst ins Chaos, dann ins Koma und überall setzten sich nervende Spaltprozesse durch, aus denen eine bunte Palette mehr oder weniger revolutionärer Parteien und Organisationen hervorging. Doch auch das ist nur die halbe Wahrheit, denn der größere Teil der neuen Linken tauchte in alte Strukturen ein, entweder in kommunistische oder auch in sozialdemokratische, um dort den „langen Marsch durch die Institutionen“ anzutreten oder schlichtweg eine Berufsperspektive aufzubauen. Nur wenn man die Parteienlandschaft aber auch die Gewerkschaften, den Bildungssektor und den Kulturbetrieb der 70er Jahre mit der Ära Adenauer vergleicht, lässt sich die Wirkung der spektakulären Ereignisse von 1968 abschätzen, aber auch die Rachsucht verstehen, mit der 40 Jahre danach über sie geurteilt wird. Wobei derlei Motive nicht nur bei den Konservativen zu beobachten sind, sondern mehr noch bei jenen, die ihr antiautoritäres Erbe gegen die Zuneigung der Autoritäten eintauschten.
Harald Werner 28. April 08
Kann man gegen die Rente mit 67 sein und mit 67 Marathon laufen? Ja, man kann, aber wer kann es schon? Das durchschnittliche Rentenzugangsalter der Männer liegt bei 56 Jahren und die meisten davon scheiden aus gesundheitlichen Gründen aus. Also habe ich schnell die Idee verworfen, mein T-Shirt mit dem Spruch „Marathon mit 67“ zu verzieren. Von den 42.000 Läuferinnen und Läufern waren 359 über 65 – das sind 0,85 Prozent – und ich verwette meine Medaille, dass darunter niemand einige Jahrzehnte körperlich gearbeitet hat. Selbst bei mir, mit meinen sieben Jahren im Stahlbau, knirscht es bereits bedenklich im Gerüst. Aber für den 209. Platz bei 4 Stunden und 44 Minuten hat es noch gereicht. Und das, obwohl ich meinen ersten Lauf mit 64 begonnen habe. Immerhin habe ich Heidi halbwegs auch versprochen, dass es mein letzter Marathon war. Mal sehen…bei den über 70jährigen ist die Konkurrenz deutlich kleiner.
den bin ich vier Wochen nach meinem 70. gelaufen