Beim Erinnern an ein Land, das bereits vor mehr einem halben Jahrhundert unterging, fällt es schwer, sich an mehr als die Blockade, den Volksaufstand am 17. Juni und den Mauerbau zu erinnern. Doch der Dreh- und Angelpunkt waren nicht diese spektakulären Ereignisse, sondern das Nebeneinander zweier Währungen, die das Land stärker spalteten als alle Grenzen. Im Schnitt erhielt man, je nach Tageskurs, in einer der Wechselstuben für eine DM zwei Ostmark und wer als Ostberliner Westgeld erhalten wollte, musste für eine DM zwei Ostmark hergeben.
Vom Nebeneinander von DM und Ostmark profitierten alle Ostberliner, die ihr Geld im Westen verdienten, in Ostmark umtauschten und damit mehr Kaufkraft besaßen. Profitabel war dies aber nicht nur für die Ostdeutschen, die im Westen arbeiteten, sondern auch für die Unternehmen, die ostdeutsche Arbeitskräfte beschäftigte. Ich arbeiteten damals zusammen mit West -und Ostkollegen in einem Westberliner Kranbautrieb – zum gleichen Tarifvertrag zwar, doch die Ostkollegen erhielten nur die Hälfte ihres Lohns in DM und den Rest in Ostmark. Für die Westberliner Unternehmen zweifellos eine Subvention und für die Ostarbeiter ein Anreiz, im Westen nach Arbeit zu suchen. Für die ostdeutsche Wirtschaft war dieser Zustand katastrophal, weil ihr einerseits Arbeitskräfte abgeworben wurden und die Westberliner andererseits im Osten billig einkaufen konnten.
Das Warenangebot der DDR war in dieser Hinsicht weder besonders attraktiv noch billig und erst recht nicht überall zu haben. Inhaltlich, preislich und vor allem von zahlungskräftigen Westkunden gefragt, war jedoch das gesamte Kulturangebot. Das Angebot von Büchern, Theateraufführungen und Konzerten war aber nicht nur attraktiv, sondern auch hoch subventioniert. Marxistische Literatur war so billig, dass westdeutsche Studenten nach dem Geldumtausch für Marx Kapital nicht mehr ausgeben mussten, als für eine Westberliner Currywurst.
Die Mauer trennte auch den Berliner Nahverkehr. U-Bahnen und S-Bahnen, die dennoch die beiden Teile der Stadt verbanden, fuhren ohne anzuhalten einfach durch. Eine kuriose Ausnahme machte die so genannte Wannseebahn, die zwar Eigentum der ostdeutschen Reichsbahn war, aber nur an Weststationen halten durfte. Die Junge Union kam auf die Idee, die im Westen liegenden Bahnhöfe zu boykottieren. Ihr Parole hieß: „Fahrt nicht mit der S-Bahn – bezahlt nicht Ulbrichts Stacheldraht: Tatsächlich fehlte der DDR ausreichend Stacheldraht, der aber nicht in Westdeutschland, sondern überwiegend in osteuropäischen „Bruderländern“ zu haben war.
Vor allem in der Berliner Debatte über die Enteignung der Deutschen Wohnen wird gebetsmühlenartig gefordert, mehr zu bauen, um sowohl dem Wohnungsmangel, als auch dem Steigen der Mieten zu begegnen. Dem stehen allerdings zwei Probleme entgegen. Erstens steigen mit der Bodennachfrage die Grundstückspreise, was zwangsläufig die Mieten erhöht und zweitens handelt sich in der Regel um bevorzugte, höherpreisige Wohngebiete, die sich nur Besserverdienende leisten können oder aber teuer vermieten. Tatsächlich wird in Berlin kräftig gebaut, doch hauptsächlich in Lagen, die eine hohe Rendite versprechen. Während Produktionsunternehmen ihre Rendite nur durch technische Innovationen und die Senkung der Arbeitskosten erhöhen können, wächst die Rendite der Immobilienkonzerne, gewissermaßen über Nacht, durch die Erhöhung der Bodenpreise.
Während Produktionsunternehmen ihre Rendite nur durch technische Innovationen und Preissenkungen erhöhen können, kann sich die Immobilienwirtschaft, auf Grund des begrenzten Flächenangebots, getrost aufs Abwarten verlassen. „Unsere Wohnungen, so ein Vertreter der Deutschen Wohnen im März 2019, haben ein hohes selbst in den USA bewundertes Renditepotenzial – bei nur geringem Risiko.“ (ebenda) Und die Aussichten, dass es dabei bleibt, sind erheblich. Wer heute in Immobilien investiert, hat die Zukunft auf seiner Seite, denn auf nichts in der Wirtschaft kann sich das Kapital mehr verlassen, als auf das unaufhaltsame Wachstum der Bodenpreise. „So ist“ beispielsweise“ der Bodenpreis in München von 1950 bis heute um 36 000 Prozent gestiegen.
Die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ will den Berliner Senat auffordern, ein Gesetz zu erlassen, welches die Vergesellschaftung der Wohnungen von privaten Wohnungsgesellschaften, mit mehr als 3000 Wohnungen regelt. Die rechtliche Grundlage dafür liefert zwar der Artikel 15 des Grundgesetzes, doch die Gegner der Enteignungsstrategie verweisen regelmäßig auf den Schutz des Eigentums durch den Artikel 14. letztlich wird das politische Kräfteverhältnis und die öffentliche Debatte darüber entscheiden, ob es tatsächlich zur Enteignung kommt. Zwar sind Enteignungen in der BRD keine Seltenheit, vor allem wenn es um Enteignungen für den Bau von Autobahnen geht, doch eine Verwandlung von Wirtschaftsgütern in Gemeineigentum hat es, nach meinen Kenntnissen, seit der Verabschiedung des Grundgesetzes nicht gegeben. Desto hartnäckiger verweisen die Enteignungsgegner auf den Schutz des Eigentums durch Artikel 14 und die angebliche Festlegung der BRD auf eine privatkapitalistische Wirtschaftsordnung.
Alle, die eine Vergesellschaftung von Grund und Boden oder Produktionsmitteln als ein Bruch mit der bestehenden Wirtschaftsordnung brandmarken, täten gut daran, sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu beschäftigen. 1954 beschloss die Adenauerregierung ein Gesetz über die Investitionshilfe der gewerblichen Wirtschaft " nach dem die Gewerbetriebe als einmalige Aktion insgesamt 1 Mrd. DM zur Investitionsförderung der Grundstoffindustrie aufbringen sollten. (Bundesverfassungsgericht, Investitionshilfeurteil vom 20.7.1954 (BVerGE 4, 7ff ) Die Arbeitgeberverbände legten dagegen Klage beim Bundesverfassungsgericht ein – scheiterten aber nicht nur total, sondern handelten sich obendrein eine Urteilsbegründung ein, die sich gewaschen hatte. Das Gericht verwarf nämlich nicht nur die Klage der Arbeitgeberverbände, sondern formulierte in seiner Urteilsbegründung:
„Das Grundgesetz garantiert weder die wirtschaftspolitische Neutralität der Regierungs- und Gesetzgebungsgewalt, noch eine nur mit marktkonformen Mitteln zu steuernde „soziale Marktwirtschaft …..Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche….Sie beruht auf einer vom Willen des Gesetzgebers getragene wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidung, die durch eine andere Entscheidung ersetzt oder durchbrochen werden kann.“ (Abs. 5)
Wenn es tatsächlich gelänge, den Wohnungsbestand der Deutsche Wohnen & Co via Volksabstimmung in Gemeineigentum zu verwandeln, käme das einer quasi demokratischen Enteignung gleich. Denn tatsächlich war der Verkauf der Masse von Berliner Immobilien, nach der Wende, eine quasi Enteignung. Um einen Bankrott der Berliner Landesbank zu vermeiden, verkaufte der Senat nach der Wende, bis in die Mitte der Nullerjahre fast 200.000 Wohnungen. Größter Brocken war 2004 der Verkauf der GSW mit 65.000 Wohnungen - der Kaufpreis betrug 400 Millionen Euro. Doch nur wenige Jahre später kletterte der Wert auf 1,7 Milliarden Euro – hatte sich also mehr als vervierfacht.
Dass gegen die Klimakrise kein Impfstoff hilft, täuscht darüber hinweg, dass auch Pandemien nur zeitweilig mit einem Impfstoff überwunden werden können. Der Wissenschaft, vor allem der Weltgesundheitsorganisation, ist seit langem bekannt, dass in immer schnellerer Folge neue und tödliche Viren entstehen. Der Hauptgrund dafür ist paradoxerweise das, was wir als sozialen Fortschritt verstehen, nämlich die Verbesserung der Welternährungslage, die Verlängerung der Lebenszeit und die allmähliche Überwindung der Elendsquartiere durch Neubauten. Die Menschheit wächst exponentiell und verbraucht von Jahr zu Jahr mehr Naturstoff, als zur gleichen Zeit nachwachsen kann. Und was dann als neuer Naturstoff übrigbleibt, sind überwiegend Monokulturen, In denen immer mehr Arten ausgerottet werden. Dadurch entstehen so genannte Zoonosen – Erreger, die auf den Menschen überspringen, wie das Coronavirus, das zunächst auf einem chinesischen Mark entstand und sich wie ein biologisches Unwetter über die ganze Welt ausdehnte. Zu den bekanntesten, auf den Menschen überspringenden Zoonosen zählen Vogelgrippe, Schweinegrippe, Tollwut, Borreliose, Salmonellose und Malaria. Die Coronapandemie stellt all diese Pandemien in den Schatten, weil sie erstens mit bisher noch nie beobachteter Geschwindigkeit Mutationen hervorbringt und die beschleunigte Globalisierung dazu führt, dass die Übertragung eines Virus, wie die Coronapandemie gezeigt hat, innerhalb weniger Tage sämtliche Kontinente erreichen kann.
Es hat Jahrzehnte gedauert, bis die Weltgemeinschaft den Klimawandel als eine die Menschheit bedrohende Gefahr erkannte, deshalb verbindliche Ziele für die Reduzierung des CO² Ausstoßes setzte und unvorstellbare Summen in Windanagen, Sonnenkollektoren und die Herstellung von Elektroautos aufbrachte. Und das nicht der Umwelt zuliebe, sondern weil es ein Geschäft ist. Dabei wird in der Regel vergessen, dass der Klimawandel nicht nur die menschliche Zivilisation bedroht, sondern auch das Artensterben beschleunigt. Denn bei einer Erderwärmung von mehr als 3 Prozent könnten 34 Prozent der auf dem Land lebenden Tiere und 46 Prozent der Meerestiere aussterben. Das Pech der aussterbenden Arten ist, dass ihr Erhalt nicht subventioniert wird. Im Gegenteil, subventioniert wird die Arten vernichtende Landwirtschaft und die Verwandlung natürlicher Biotope in Bauland. Und während die Bekämpfung des Klimawandels in schneller Folge technische Innovationen hervorbringt und neue Geschäftsfelder erschließt, schmälert der Erhalt von Biotopen und eine artgerechte Landwirtschaft lediglich die Profitraten. Experten haben errechnet, dass eine artgerechte Haltung von Schweinen oder Kühen hierzulande drei bis vier Milliarden Euro im Jahr kosten würde. Umgerechnet wären das pro Mahlzeit für einen Konsumenten allerdings nicht mehr als fünf Cent. Doch das Entscheidende ist nicht der Speiseplan der Haushalte, sondern der Wettbewerb zwischen den Großanbietern und den Supermarktketten. Sie treiben die Preise herunter und sind letztlich für den steigenden Fleischverbrauch verantwortlich.
Während der Pandemie wurde so manch heilige Kuh geschlachtet. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit setzte die Bundesregierung das Dogma der Schwarzen Null außer Kraft und nahm Milliardenschulden auf. In den USA orderte die Bildenregierung Billionen-Kredite, um die öffentliche Infrastruktur radikal zu erneuern. Die Politik war zurückgekehrt und gleichzeitig zeigte sich, dass der Markt nicht in der Lage war, ohne staatliche Eingriffe die Länder mit Impfstoffen zu versorgen. Das privatisierte Gesundheitssystem zeigte sich unfähig ausreichend Intensivbetten bereitzustellen und In Ländern wie Brasilien oder Indien wurde der fehlende Sauerstoff zu horrenden Preisen auf dem schwarzen Markt gehandelt. In Indien war der Staat noch nicht einmal in der Lage, würdevoll seine Toten zu bestatten. Sie wurden in Haufen auf den Parkplätzen eingeäschert.
Es versagten aber nicht nur die entwickelten Demokratien, sondern die gesamte Weltgemeinschaft. Dass es überall an Schutzkleidung und Impfstoff mangelte, lag letztlich daran, dass diese Güter traditionell nur einen kleinen Markt belieferten und sich ihre Produktion ausschließlich an den aktuellen Bedürfnissen das Marktes orientierte. Zwar war der Weltgesundheitsorganisation bekannt, dass globale Pandemien, in bisher noch nie dagewesener Breite auf uns zukommen würden, aber die Warnung fiel auf keinen fruchtbaren Boden. Im Gegenteil, Trump kündigte sogar die Mitgliedschaft der USA in der Weltgesundheitsorganisation - und die europäischen Institutionen fanden sich nicht nur damit ab, sondern verzichteten darauf, eigene Institutionen und Zielvorgaben zur Sicherung des Gesundheitssystems zu schaffen. Dabei hatte man durch die Klimakrise längst erkannt, dass die Erderwärmung nur durch verbindliche globale Abkommen und Zielvorgaben zu bewältigen ist. Bleibt zu hoffen, dass daraus gelernt wird und ein internationales, politisch geregeltes Gesundheitssystem geschaffen wird. Denn ebenso wenig, wie die Natur einen Marktwert hat, sondern menschliches Allgemeingut ist, sollte man auch das medizinische Wissen und die pharmazeutischen Errungenschaften als globales Allgemeingut betrachten. Als ein Gut mit hohem Gebrauchswert, das sich am globalen Nutzen orientiert, nicht aber an den Profitraten.
In der öffentlichen Debatte über die Enteignung von „Deutsche Wohnen & Co“ wird neben allen rechtlichen Voraussetzungen auch immer eingewandt, dass Berlin, im Falle der Enteignung, nicht in der Lage sei, die finanzielle Entschädigung der Konzerne zu zahlen. Dabei werden Summen diskutiert, die sich am aktuellen Wert der Immobilien, also auch an dem Ausfall ihrer Renditen orientieren. Es geht ihnen also um den finanziellen Schaden, der ihnen durch die Enteignung entstünde. Im Grundgesetz ist jedoch ausdrücklich nicht von Schadenersatz, sondern von Entschädigung die Rede. Eine Formulierung die in § 14 nicht konkretisiert wird, aber vorschreibt, dass die Enteignung dem Wohle der Allgemeinheit dienen muss. Im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz beriet und beschloss, gab es dazu eine höchst interessante Debatte. Die SPD Abgeordnete Nadig fragte ob es nicht auch notwendig wäre entschädigungslos zu enteignen. Darauf der CDU-Abgeordnete und spätere Kommentator des Grund+gesetzes, Dr. von Mangoldt.“ Ja, diese Möglichkeit besteht. (Parlamentarischer Rat: Akten und Protokolle Bd. 5 II S.735) Zwischenruf von Dr. Bergsträsser (SPD): „Vielleicht die Entschädigung 1 Pfennig.“ Mangoldt. „Ja diese Möglichkeit besteht“.
Vermutlich wird sich das heutige Bundesverfassungsgericht mit einer solchen, eigentlich symbolischen Abfindung, nicht zufriedengeben. Sehr viel realistischer wäre, dass Neue Wohnen & Co bei einer Rückgabe der Immobilien ihnen ursprüngliche Kaufpreis zurückerstattet bekäme – möglicherweise sogar einschließlich der vorgenommenen Modernisierungen. Denn tatsächlich haben die Konzerne ihre Wohnungen nicht mit eigenem Kapital gebaut, sondern fast geschenkt bekommen. „Der Berliner Senat verscherbelte 65 700 Wohnungen und Gewerbeeinheiten für 401 Millionen Euro. Das sind 6.103 Euro – nicht pro Quadratmeter, wie man heute bezahlen müsste, sondern pro Wohnung. (Wolfgang Schorlau, Kreuzberg Blues, S. 412)
Alle PolitikerInnen die eine Vergesellschaftung von Grund und Boden oder Produktionsmitteln als ein Bruch mit der bestehenden Wirtschaftsordnung brandmarken, täten gut daran sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu beschäftigen. 1954 beschloss die Adenauerregierung ein Gesetz über die Investitionshilfe der gewerblichen Wirtschaft " nach dem die Gewerbetriebe als einmalige Aktion insgesamt 1 Mrd. DM zur Investitionsförderung der Grundstoffindustrie aufbringen sollten. (Bundesverfassungsgericht, Investitionshilfeurteil vom 20.7.1954 (BVerGE 4, 7ff ) Die Arbeitgeberverbände legten dagegen Klage beim Bundesverfassungsgericht ein – scheiterten aber nicht nur total, sondern handelten sich obendrein eine Urteilsbegründung ein, die sich gewaschen hatte.
„Das Grundgesetz garantiert weder die wirtschaftspolitische Neutralität der Regierungs- und Gesetzgebungsgewalt, noch eine nur mit marktkonformen Mitteln zu steuernde „soziale Marktwirtschaft …..Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche….Sie beruht auf einer vom Willen des Gesetzgebers getragene wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidung, die durch eine andere Entscheidung ersetzt oder durchbrochen werden kann.“ (Abs. 5)
Selbst wer sich nicht für Politik interessiert, hat doch das Bedürfnis, dass Regierungen, Parteien, und Parlamente das Geschehen einigermaßen im Griff haben. Unabhängig von ihren konkreten politischen Wünschen erwarten sie von der Politik eine gewisse Professionalität und Berechenbarkeit. Die Coronapandemie aber vermittelt den Eindruck, dass die herrschende Politik selbst die Kontrolle verloren hat. Kontrollverlust aber ist ein irrationaler, psychischer Zustand, bei dem das Bedürfnis nach Normalität zu einem Grundanliegen wird.
Dass sich viele Menschen, scheinbar wie die AfD, nach Normalität sehnen, scheint eigentlich paradox, weil es nicht an Informationen über die Pandemie mangelt, sondern sie mit einem Übermaß an Informationen versorgt werden. Ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Zeit gegeben hat, in der die Menschen so viele Informationen über die aktuelle politische Lage erhalten haben. Corona überflutet die Menschen mit so fremden Begriffen, unverständlichen Vorgängen und fast sich stündlich verändernden Prognosen, dass das Bedürfnis nach Normalität zum beherrschenden Gefühlszustand geworden ist. Und niemand hat dieses Bedürfnis besser und verständlicher auf den Punkt gebracht, als die AfD mit ihrer Wahlkampfforderung nach einem „normalen Deutschland.“ Eine ebenso einfache, wie gefährliche Forderung. Gefährlich vor allem deshalb, weil sie beliebig konkretisiert werden kann.
Liest man das Wahlprogramm der AfD, so wird man nichts Neues finden. Nichts etwa zum kaputtgesparten Gesundheitssystem oder dem Missmanagement der Pandemiepolitik, aber so ziemlich alles, was dazu geführt hat, dass sich endlich auch der Verfassungsschutz mit dem Rechtsextremismus der AfD beschäftigt. Unverhohlen fordert sie eine massive Einschränkung des Asylrechts, den Austritt der BRD aus der EU und sogar die Errichtung von Grenzzäunen. Das „normale Deutschland“ der AfD anerkennt keinen Klimawandel, ist fremdenfeindlich, idealisiert die deutsche Vergangenheit, geißelt gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Frauenquoten und Multikulturalismus und fordert die Abschaffung der meisten Corona-Maßnahmen.
Die Nürnberger Arbeitsagentur hat am Ende des vergangenen rund 62 Milliarden Euro ausgegeben, um durch Kurzarbeitergeld Arbeitsplätze zu sichern. Dass dabei weniger Arbeitsplätze als Gewinne abgesichert wurden, zeigt das Beispiel BMW. Der Autobauer hat sich einerseits von der Nürnberger Agentur einige Milliarden Kurzarbeitergeld auszahlen lassen und für eine staatliche Kaufprämie stark gemacht, gleichzeitig aber 1,6 Milliarden an Dividenden ausgezahlt. BASF wiederum überweist Dividenden in Höhe von 3,4 Milliarden Euro, hat in Großbritannien aber eine Staatshilfe in Milliardenhöhe angenommen. Bayer will drei Milliarden Euro an seine Aktionäre zahlen, hat aber ebenfalls 670 Millionen Euro aus dem britischen Nothilfefonds kassiert. Insgesamt werden die im Dax gelisteten Unternehmen für das Krisenjahr 2020 geschätzte 322 Milliarden Euro an Dividenden auszahlen. (isw Wirtschaftsinfo 59, S.18) Damit sind die Devidenden der DAX Konzerne etwa zwei Drittel so groß wie der gesamte Bundeshaushalt.
Zu den Gewinnern der Krise gehören auch Internetkonzerne wie Amazon, Apple, Google und Facebook. Sie profitieren auf der einen Seite vom während der Krise enorm gestiegenen Onlinegeschäft und auf der anderen vom veränderten Nutzerverhalten. Denn das Schließen von Kinos, und Theatern aber auch die Stilllegung der Clubszene haben zwangsläufig zu einer enormen Steigerung der Verweilzeiten im Netz geführt, was gleichzeitig die Werbeeinnahmen von Facebook & Co steigerte. Über andere Supergewinne kann man momentan nur spekulieren. So etwa wie viele Gewinne durch die Ausrüstung von Homeoffice und Homeschooling eingefahren wurden. Nach einer Umfrage von ChannelPartner berichten 86 Prozent der Unternehmen von einer gesteigerten Wettbewerbsfähigkeit. (https://www.channelpartner.de/a/digitalisierung-steigert-den-gewinn-von-unternehmen) Seit Jahren wird von Wirtschaft und Politik eine zunehmende Digitalisierung angefordert, doch was alle Appelle nicht vermochten, hat die Krise schnell und entschlossen verwirklicht.
Bereits im Jahr vor der Corona-Krise nahm das seit der Wende anhaltende Wachstum an Arbeitsplätzen ab. Die Metall- und Elektroindustrie vernichtete bereits vor der Coronakrise 159.000 Arbeitsplätze, das Gastgewerbe knapp 100.000, das produzierende Gewerbe insgesamt 200.000 und die Dienstleistungen 350.000. Insofern kann der Corona-Krise nicht nachgesagt werden, dass sie die Arbeitslosigkeit erhöht habe, denn der Verlust begann bereits vor der Pandemie. Allerdings gehen Experten davon aus, dass die Industrie bald schon Einstellungsprobleme haben wird, weil sich die großen Rationalisierungs- und Modernisierungswellen abgeschwächt haben. Viel entscheidender ist, dass in der Krise nicht nur Arbeitsplätze abgebaut, sondern viel entscheidender ist, dass durch den Lockdown Existenzen vernichtet und ganze Branchen schrumpften. Massenhaft mussten Soloselbständige aufgeben, Restaurants und Clubs verschwanden und viele Künstler mussten ihre Kunst aufgeben und Hilfsarbeiterjobs annehmen. Von dieser „schöpferischen Zerstörung“ profitieren vor allem Interhändler wie Amazon oder Lieferdienste wie Lieferando, der vor allem Restaurants in den Konkurs treibt. Die Anzahl der bei Lieferando bestellten Speisen stieg im ersten Halbjahr 2020 auf rund 49 Millionen, ein Zuwachs von 34 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Der Umsatz verdoppelte sich von 80 Millionen auf 161 Millionen Euro. Leicht vorstellbar, dass die durch den Lockdown in die Pleite getriebenen Existenzen und kulturellen Verluste von Dauer sein werden.
Ganz im Gegensatz zu diesen Verlusten, konnten die deutschen Milliardäre ihre privaten Geldvermögen im Krisenjahr 2020 um 29,5 Prozent steigern, was einem Zugewinn von 313 Milliarden entspricht. Nicht auf Grund der Coronapandemie, sondern trotz Pandemie. Die größten Gewinnsprünge erzielten dabei Milliardäre, deren Vermögen in der Technologie- und Gesundheitssektor angelegt war.
Bevor die Netze zur dominanten Entwicklungsplattform von Wissen und Meinungen wurden, waren das geschriebene Wort und die akademische Lehre, die wichtigsten Orte der Entwicklung und Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Wer traditionelles Wissen kritisieren und neues durchsetzen wollte, hatte einen langen und mühseligen Prozess vor sich. Bevor Philosophen, Geistes- wie Naturwissenschaftler sich in ihrem Fach einen Namen machen konnten, hatten sie unzählige Vorträge zu halten, Aufsätze zu schreiben und erfolgreiche Bücher herauszubringen. Und nichts davon hatte lange Bestand, denn im wissenschaftlichen, wie auch im politischen Leben, konnte nur etwas werden, wer die Autoritäten seines Fachs vom Sockel stürzte. Doch diese Ochsentour ist seit dem Entstehen der sozialen Netze nicht mehr die alleinige Form der Produktion und Verbreitung von Wissen. Zwar werden immer noch Bücher geschrieben, Referate gehalten und Seminare besucht, doch die Masse wissenschaftlicher Veröffentlichungen und Diskussionen tummelt sich inzwischen im Internet. Das gleiche Schicksal erleidet der Journalismus. Wo früher noch in Redaktionskonferenzen Nachrichten ausgewählt und kommentiert wurden, werden heute Millionen User mit einer unübersehbaren Fülle widersprüchlicher Informationen und Kommentierungen überschwemmt. Die Folge dieses chaotischen Pluralismus ist, dass es in diesem Informationsüberfluss immer schwerer wird, zwischen Fakten und Fiktionen zu unterscheiden, ja überhaupt die Existenz von Wahrheiten zu bezweifeln.
Von Donald Trump bis zum Rechtspopulismus dominiert die Auffassung, dass Wahrheiten nur gefühlt werden können. Zum Beispiel konterte ein AfD-Kommunalpolitiker den Einwand, es gäbe viel weniger Flüchtlinge in Deutschland, als seine Partei behaupte, mit der inzwischen gängigen Behauptung: „Es geht nicht nur um die reine Statistik, sondern es geht darum, wie das der Bürger empfindet.“ Das heißt also, dass das, was man fühlt, auch Realität ist. Niemand hat diese Politik, der Verwandlung von Gefühlen in angebliche Wahrheiten, erfolgreicher praktiziert als Donald Trump. Einmal durch das anknüpfen an diffuse Ängste und zum anderen durch die Leugnung wirklicher Gefahren, wie etwa dem Klimawandel oder dem Artensterben. Trump unterzog sich nicht der Mühe, Fakten durch Fakten zu widerlegen, sondern unterstellte generell, dass man einen Tatbestand so oder eben auch anders sehen könnte. Bis zur eindeutigen Niederlage konnte Trump deshalb seiner Anhängerschaft vorgaukeln, dass die „Wahl gestohlen“ war.
Die digitalisierte Wissensproduktion ist älter als man denkt. Bereits in den 1960er Jahren wurde mit dem TR440 ein Großrechner installiert, der nicht nur Unmengen von Daten bearbeiten konnte, sondern auch logische Zusammenhänge aufzeigte, Gesetzmäßigkeiten entdeckte und Theorien überprüfen konnte. Der eigentlichen Quantensprung aber war nicht die Sammlung und Berechnung von Daten, sondern die Entwicklung von Algorithmen, die im Netz wie digitale Spürhunde nach Menschen suchen, die bestimmte Auffassungen, Vorlieben und Gewohnheiten haben. Ein gefundenes Fressen für die Werbung, immer mehr aber auch für das politische Denken. Nicht dass Twitter und Co ein Interesse an der Verbreitung bestimmter politischer Meinungen gehabt hätten – was ihnen eher gleichgültig war. Das Einzige was sie wirklich interessiert, ist auch weniger der Verkauf von Daten an die Werbewirtschaft, sondern das eigene Anzeigengeschäft.
So erklärte Mark Zuckerberg 2018 vor dem US Kongress: " Es gibt dieses sehr verbreitete Missverständnis über Facebook – nämlich, dass wir Daten an Werbetreibende verkaufen würden. Wir verkaufen keine Daten an Werbetreibende. Wir verkaufen an niemanden Daten." Denn tatsächlich sammeln Facebook & Co die Unmengen an Besucherdaten nicht, um sie verkaufen zu können – sondern sie verkaufen perfekt zielgerichtete Werbung. Und der Preis ist umso höher, je häufiger die Plattform besucht wird. Für die Anzeigenschaltungen gibt es nämlich keine Preisliste, wie bei Druckmedien üblich, sondern Facebook & Co versteigern die Werbeschaltungen, wobei der Preis davon abhängt, wie viele und wie oft User den Dienst aufrufen. Facebook zählte 2020 immerhin 3,8 Milliarden Nutzer und kassierte zusammen mit Google schätzungsweise 84 Prozent der globalen digitalen Werbeeinnahmen. Das Paradoxe an diesen Geschäften ist, dass die Plattformen ihren Rohstoff, nämlich die von uns gelieferten Daten, umsonst bekommen.
Dass die Höhe der Werbeeinnahmen abhängig von der Zahl der Nutzer ist, hat zur Folge, dass die angeblich sozialen Netze höchst unsoziale Praktiken befördern. Je skandalöser ein Netzbeitrag, desto mehr Klicks verursacht er nämlich, so dass die Plattformen keinerlei Skrupel haben, Gewaltverherrlichung, sexistische Inhalte und Hass zu verbreiten. Jeder Aufreger ist ihnen recht, sofern er nur die Klicks und damit die Werbeeinnahmen erhöht.
Noch nie vor der Entwicklung des Internets, gab es eine Instanz, die so viel über uns wusste, wie heute die verschiedenen Plattformen. Was immer wir suchen, lesen oder kaufen – wir hinterlassen äußerst viele Spuren, verraten ungewollt unsere Vorlieben und produzieren eine ausführliche Biografie, wie sie selbst der perfekteste Geheimdienst nicht registrieren könnte. Unser Gehirn kann etwas vergessen und eine Erinnerung verschwindet, doch das Netz vergisst nur nichts, es kann mit seinen Algorithmen maßgeschneiderte Biografien erstellen, mit denen Käufergruppen zusammengestellt werden. So erhielt eine junge Frau regelmäßig von einem Supermarkt Angebote für Umstandsmode und Babywäsche, was deren Vater zunächst ärgerte, dann stutzig machte und ihn schließlich dazu brachte, sich bei der Leitung des Supermarktes zu beschweren. Die aber gab zu, dass die Werbung nur deshalb versandt wurde, weil das Kaufverhalten des Mädchens typisch für eine Schwangere war. Das Beispiel mag kurios sein, doch es macht auch Angst. Zielgenaue Informationen und ausgefeilte Algorithmen erfreuen nicht nur die Werbung, sondern sind problemlos auf die Politik übertragbar - zum Beispiel zur Information aber auch zur Irreführung potenzieller WählerInnen durch so genannte Bots, die in den sozialen Netzen menschliche Kommunikation simulieren, um massenhafte Klicks vorzutäuschen. Etwa die Hälfte des heutigen Internetverkehrs wird dementsprechend nicht von realen Menschen, sondern von Bots erzeugt – von Computerprogrammen, die zum Beispiel automatisch Mails versenden und sich wiederholende Aufgaben abarbeiten. So können Bots Stimmung gegen bestimmte Parteien und Politiker machen, gezielt Fake News verbreiten oder Werbung betreiben.
Dem Anschein nach sind die sozialen Netze ein schier unendlicher Raum, in dem alle mit allen kommunizieren können und sich immer neue und offene Gemeinschaften bilden. Anders als in der realen Welt, wo die soziale Herkunft und die tägliche Lebenswirklichkeit darüber entscheiden, mit wem und worüber man redet, scheinen die sozialen Netze von Pluralität und Offenheit geprägt. Hier scheint jede mit jedem und über alles zu kommunizieren, egal welche Ausbildung sie haben und womit sie ihr Geld verdienen. Im Prinzip ist das richtig, doch die hilfreichen Logarithmen sorgen dafür, dass Gleiches auch zu Gleichem findet. Sie filtern aus der unübersehbaren Datenmasse User aus, die fortan bei Suchanfragen mit Kaufangeboten versorgt werden und dem Nutzer die Inhalte anbieten, die seinen Interessen entsprechen. Wobei es Facebook und Co völlig gleichgültig ist, ob User nach einem Urlaubsziel, einem Porno oder einem wissenschaftlichen Text suchen. Für die Plattformen kommt es ausschließlich darauf an, wie häufig eine Seite aufgerufen wird, wie viele Klicks eine Suchmaschine oder ein soziales Netz aggregieren und wie hoch dementsprechend die Werbeeinnahmen ausfallen.
Doch während Filterblasen durch Algorithmen maschinell erzeugt werden, führen Echokammern ein fast schon soziales Eigenleben. Hier wird, wie in der sozialen oder politischen Öffentlichkeit, über Inhalte diskutiert und gestritten, werden Andersdenkende abgewatscht und Hahnenkämpfe um die Meinungsführerschaft ausgefochten. Doch je intensiver in der Echokammer um die „wahre Lehre“ gestritten und Abweichungen kritisiert oder weggemoppt werden, umso eintöniger und häufig auch radikaler wird die Debatte. Wobei man zugeben muss, dass solche Plattformen eine immer wichtigere Rolle bei der Mobilisierung für Demonstrationen oder spontane Aktionen spielen. Was jedoch zu kurz kommt, ist die Entwicklung demokratischer Basisstrukturen. Man trifft sich im globalen Netz, nicht aber vor Ort und die inhaltlichen oder taktischen Entscheidungen fallen nicht an der Basis, sondern in überregionalen Komitees.
Wenn ich mit der Bahn fahre, kann ich damit rechnen, dass mehr als die Hälfte der Mitreisenden auf ihr Smartphone starren, miteinander reden tun nur die, die sich kennen. Es ist eine eigenartige Form der Einsamkeit. Man kommuniziert zwar im grenzenlosen Raum miteinander, hat aber kein Gegenüber, sondern ist mit seinem Smartphone hoffnungslos allein. So haben denn auch Untersuchungen festgestellt, dass User, die täglich mehr als zwei Stunden online waren, mit einer doppelt so hohen Wahrscheinlichkeit unter Einsamkeit litten als jene, die das Internet weniger als 30 Minuten nutzten. Diese User schauen im Schnitt alle elf Minuten auf ihr Smartphone, ständig in der Hoffnung, eine interessante Nachricht zu finden, oder besser noch angeschrieben zu werden. Wird man fündig oder angeklickt, verhält sich das Gehirn wie beim Gewinn an einem Spielautomaten. Es schüttet das glücklich machende Dopamin aus und weckt das Bedürfnis nach mehr von diesem Aufputschhormon. (https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/einsamkeit-im-digitalen Netz)
https://www.harald-werner-online.de/
Im Vergleich zu früheren Geschichtsepochen leidet unsere Gegenwart keineswegs unter veralteten, unproduktiven Strukturen oder gefesselten Produktivkräften, sondern unter einer beschleunigten Modernisierung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse. So viel Neues, und das in atemberaubender Geschwindigkeit, hat die Menschheitsgeschichte noch nie gesehen. Der Neoliberalismus brauchte kaum mehr als ein Vierteljahrhundert, um Ökonomie und Gesellschaft seiner Logik zu unterwerfen. Doch anders, als etwa die Überwindung der Sklavenhaltergesellschaft oder der Feudalwirtschaft, hat die neoliberale Modernisierung die Menschheit nicht nur nicht reicher, sondern ärmer und verletzlicher gemacht. Wobei die Reichen immer reicher und die Armen zahlreicher wurden. Zwar hat sich, insbesondere In Asien, der Anteil von Menschen in extremer Armut, durch die Industrialisierung verringert, was von neoliberalen Ökonomen gerne zitiert wird, doch aufs Ganze gesehen wächst der globale Reichtum schneller als die Einkommen in den so genannten Entwicklungsländern. Die Gruppe der Superreichen, die nur 0,004 Prozent der Weltbevölkerung stellen, verfügen über 12,8 Prozent des globalen Vermögens.[i]
Extreme Ungleichheit ist aber immer noch kein Grund, beim Neoliberalismus über eine einsturzgefährdete Ökonomie zu reden. Problematischer ist die Verwendung des akkumulierten Kapitals. Es investiert nämlich immer weniger in die Produktion, zieht sich auch immer mehr aus der Modernisierung staatlicher Strukturen zurück und investiert in spekulative Finanzgeschäfte. „Der Löwenanteil der dort erzielten Profite fließt in Banken, Versicherungsgesellschaften und Immobilien zurück, statt für produktive Zwecke, etwa Infrastruktur und Innovationen genutzt zu werden.“[ii] Nur noch zehn Prozent aller britischen Bankkredite werden zum Beispiel an Unternehmen außerhalb des Banksektors ausgereicht, der übergroße Rest aber wandert in Immobilienkredite. Machten diese 1970 in Großbritannien noch 35 Prozent der Kreditvergabe aus, so waren es 2007 bereits 60 Prozent. Das Problem dabei ist, dass ein immer größerer Teil des Kapitals keinen Mehrwert produziert, sondern sich durch Immobilien-Spekulationen vermehrt. Anders als beim produktiven Kapital, vermehrt sich das Immobilienkapital nicht aus dem Mehrwert der Produktion, sondern aus der Wertsteigerung von Mieten und Baugrundstücken. Im Grunde genommen, werden die Lohnabhängigen auf doppelte Weise ausgebeutet. Erst als Lohnarbeiter und danach als Mieter. So zahlten die Mieter in der Hauptstadt noch vor zehn Jahren 5,60 Euro pro Quadratmeter, heute müssen sie bei Neuvermietung im Median mit 11,40 Euro rechnen.[1] Dass diese Kapitalvermehrung durch Preissteigerung der Immobilien ein ganzes System zum Einspruch bringen kann, zeigte die Finanzkrise von 2008. Die Staaten mussten 3,8 Billionen Dollar aufbringen, um das durch Immobilienspekulationen vom Einsturz bedrohte Bankensystem zu retten.
Beginnt man mit dem Positiven, dann ist es erstaunlich und erfreulich, wie schnell sich die Bundesregierung von der schwarzen Null verabschiedete, das Angebotsdogma über Bord warf und Milliarden locker machte, um Arbeitsplätze und Unternehmen zu retten. Weltweit besann man sich darauf, dass der Markt nicht das einzige Werkzeug der Wirtschaftspolitik ist und ohne politische Instrumente kein Staat zu machen ist. Typischerweise hatte die Politik nicht daran gedacht, dass höhere Staatsausgaben auch höhere Steuereinnahmen voraussetzen. Nur in der Linken erinnerte man sich daran, dass die Bundesregierung seit Jahren keine Vermögenssteuer mehr erhebt – ein Geschenk an die reichsten der Reichen, das jährlich etwa 25 Milliarden einbringen würde. Dabei wurde die Vermögenssteuer in Deutschland nie abgeschafft, sondern nur ausgesetzt, weil das Gesetz, nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, rechtliche Mängel hinsichtlich der Besteuerung der Immobilienvermögen zeigte. Selbst in konservativen Bereichen wird inzwischen darüber nachgedacht, wie der Staat durch Steuern seine Handlungsfähigkeit erhöhen könnte. So schlägt der CDU-Entwicklungsminister Müller die Einführung einer Finanztransaktionssteuer vor: „Würden wir die in Europa mit 0,01 Prozent auf den Derivatenhandel und börsennotierten Aktienhandel erheben, würde das im Jahr rund 50 Milliarden Euro einbringen. Damit ließe sich der Hunger in der Welt stoppen und Corona Impfstoffe für bis zu zwei Milliarden Menschen in den Entwicklungsländern finanzieren.“[2]
Auch die Globalisierung wird, nach den Riesenverlusten von Wirtschaft und Staat, nicht mehr die gleiche wie früher bleiben. So schreibt Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer der DIHK: „Wie im Zeitraffer beschleunigen sich im Zuge der Corona-Krise manche Trends, die ohnehin anstehen“[3] Die Pandemie habe die Wirtschaft zu einem Zeitpunkt erwischt, in dem das System globaler Zusammenarbeit ohnehin durch Tendenzen zur Abschottung und neue Handelshürden gefährdet wird. In der Krise zogen viele deutsche Konzerne ihre Produktionsstätten im armen Süden zurück, was dort Millionen Arbeitsplätze vernichtete und Lieferketten zerreißen ließ. Gleichzeitig wird diese Abschottung auf die BRD zurückschlagen, weil der Rückzug des Kapitals dem eigenen Export schadet. Immerhin machten die Einkommensgewinne aus dem Exportgeschäft nach jüngsten Angaben noch 86 Milliarden Euro aus.
Doch während die Wirtschaft in der Pandemiekrise Verluste in einer bisher nicht bekannten Höhe verkraften musste und die Marktkräfte ihre Dominanz über die Gesellschaft verloren, gewann der Staat sowohl an Handlungsfähigkeit, als auch an Ansehen. Die Parole „Markt vor Staat“ verwandelte sich in der Coronakrise in eine erstaunliche Zustimmung der Gesellschaft zu den staatlichen Maßnahmen, die die Regierung ergriff, um sowohl Betriebe, als auch Menschenleben zu retten. Nicht zuletzt auch deshalb, weil China eindrucksvoll zeigte, wie ein autoritärer Staatsapparat die Pandemie beenden konnte.
Gerade hat die Menschheit begriffen, dass der Klimawandel die größte Bedrohung unserer Zeit ist, da beginnt sie zu verstehen, dass Klimawandel und Coronapandemie zwei Seiten des gleichen Übels sind, nämlich des unumkehrbaren Eingriffs oder der Zerstörung von Naturprozessen. Wobei die Ursachen und Folgen des CO²-Ausstoßes leichter zu verstehen sind als die vielfältigen Zusammenhänge, die Pandemien entstehen lassen. Der Klimawandel zerstört mit den CO²-Immissionen den Schutzschild der Atmosphäre, aber Viren sind das Ergebnis einer galoppierenden und vielfältigen Artenvernichtung, die zahllose Ursachen hat. Bis heute aber verstehen die meisten Menschen unter Artenvernichtung das Aussterben von Säugetieren, Vögeln oder auch Meerestieren, nicht aber eine Verarmung der Biomasse. Doch mit jedem neuen Acker, jeder Verwandlung von Natur in Bauland und der Ausweitung von Monokulturen, sterben nicht nur einzelne Arten, sondern mit ihrem Sterben werden auch die Selbstregulierungskräfte der Natur gestört.
Grundsätzlich sind Übertragungen von tierischen Krankheitserregern auf den Menschen keine Seltenheit. Es sind so genannte Zoonosen, Infektionskrankheiten, die vom Tier auf den Menschen übertragen werden können. Sie hat es schon immer gegeben, doch das immer stärkere Eindringen dieser Zoonosen in die menschliche Zivilisation ist ein Ergebnis des immer schnelleren Bevölkerungswachstums, der zunehmenden Mobilität der Menschen, Massentierhaltung und Monokulturen, in denen Zoonosen bestens gedeihen. Hinzu kommt, dass sich Zoonosen nicht mehr in einem begrenzten Raum entwickeln, sondern in Folge der Globalisierung in Windeseile verteilt und vermehrt werden. Vor einem Jahrhundert wäre das im chinesischen Wuhan von Tieren auf den Menschen übertragene Coronavirus bald schon ausgestorben, doch erst die Dichte der Besiedlung von Wuhan, dann die Massensiedlungen in China und schließlich der globale Flugverkehr sorgten dafür, dass sich das Virus in wenigen Wochen über die ganze Welt verteilte.
Seit sich 2003 die Infektionskrankheit SARS in Windeseile über den Globos verteilte und Hunderttausende daran starben, wusste die Weltgesundheitsorganisation, dass es weitere Pandemien geben würde. Erstens weil die Zoonosen schnell mutieren und zweitens weil das globale Verkehrsaufkommen von Jahr zu Jahr zunimmt. Doch wenige fragten, wie sich die Welt verändern müsste und wie das Gesundheitssystem darauf vorzubereiten ist. Einer der Wenigen die darauf hinwiesen war Bill Gates, dem Verschwörungstheoretiker prompt vorwarfen, das Virus selbst produziert zu haben. Das war zwar Unsinn, doch Bill Gates wäre nicht Gates wenn ihn die Pandemie nicht auf eine Geschäftsidee gebracht hätte. Wo die Menschen auf Abstand gehen müssen, um die Übertragung des Virus zu bremsen, muss das Soziale durch Digitalisierung ersetzt werden – durch Homeoffice, Homeschooling und Videokonferenzen.
[1] https://wohnglueck.de/artikel/mieten-deutschland-10-jahresvergleich-26942
[2] Gerd Müller, „Die Ausbeutung von Mensch und Natur muss ein Ende haben“ Tagesspiegel vom 27.12.2010
[3] https://www.dihk.de/de/aktuelles-und-presse/aktuelle-informationen/dihk-impulspapier-die-globalisierung-nach-corona-27446
[i] Bundeszentrale für politische Bildung - 1.7.2017
[ii] Mariana Mazzucato, Kapitalismusnach der Pandemie, Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/20 S.52
Drei US-Senatoren drohten dem Ostseehafen Sassnitz-Mukram schwere Sanktionen an, ja sogar die „Vernichtung“, falls er weiterhin den Bau der Erdgas Pipeline Nordstream 2 unterstütze. Allseitige Empörung, da die Pipeline bereits zu 90 Prozent fertig war und alle Genehmigungen für das Projekt vorlagen. Zwar war es nicht das erste Mal, dass die USA das Projekt kritisierten und durch Sanktionsdrohungen eine zeitweilige Stilllegung erzwingen wollten, doch es wurde weiter gebaut. Vordergründig argumentieren die USA, dass die EU durch die russischen Gaslieferungen in eine strategische Abhängigkeit von Russland geraten würden. Tatsächlich aber ging es den USA um ihr eigenes Flüssiggasgeschäft, das nur schwer vorankommt, weil das Flüssiggast deutlich teurer ist und bei seiner Gewinnung durch Fräcking obendrein schwere Umweltschäden verursacht werden.
Die Empörung von Landes- und Bundesregierung war heftig. Sogar die Kanzlerin schaltete sich ein und verlangte die Vollendung der kurz vor der Fertigstellung stehenden Pipeline.
Der russische Oppositionspolitiker Nawalny wird Opfer eines Giftanschlags, nach Berlin eingeflogen und in der Charite behandelt. Niemand weiß, wer den Anschlag befohlen und ausgeführt hat, doch das Gift wurde in Russland entwickelt, was Anlass genug ist, um Putin als Auftraggeber auszumachen. Nur wenige Stimmen zweifeln an dieser Schuldzuweisung, weil Nawalny nicht nur der bekannteste russische Oppositionspolitiker ist, sondern sich auch einen Namen als Kritiker der korrupten Oligarchen machte.
Es dauerte nicht lange und in kürzester Zeit wurde aus allen politischen Lagern nach Sanktionen gegen Nord Nordstream 2 gerufen. Selbst die Kanzlerin, die sich nach den Sanktionsforderungen der US Senatoren, zunächst für den Weiterbau ausgesprochen hatte, hielt es nach dem Giftanschlag plötzlich für angebracht, Nordstream 2 stillzulegen.
Der Bundesfinanzminister Scholz unterbreitet seinem US-Kollegen das Angebot, mit bis zu einer Milliarde Euro den Bau für zwei Spezialhäfen für amerikanisches Flüssiggas zu unterstützen. „Im Gegenzug“, so Scholz, „werden die USA die ungehinderte Fertigstellung und den Betrieb von Nord Stream 2 erlauben.“
1788 veröffentlichte der Freiherr von Knigge seinen Ratgeber „Über den Umgang mit Menschen“ und schuf damit ein Regelwerk, das erstmals wohlmeinende Maßstäbe für soziales Verhalten setzte. Unabhängig davon, wie weit diese Maßstäbe im Laufe der Zeit tatsächlich beachtet wurden, haben sich zu jeder Zeit Menschen Regeln für soziales Verhalten gegeben. Weniger durch schriftliche Weisungen, als durch die alltägliche Praxis, in der sich Normen, Tugenden und vor allem Werte herausbilden. Je vielfältiger diese Praxis ist und je mehr Menschen miteinander umgehen, desto kreativer, aber auch überschaubarer das gesellschaftliche Leben.
Maßgeblich für die psychische Aneignung dieser Normen, Werte und Tugenden sind die so genannten Spiegelneurone, die das Verhalten anderer Menschen wie durch einen Scanner speichern und immer dann aktiviert werden, wenn andere ähnlich handeln, wie man für gewöhnlich selbst handelt. Begegnen sich zum Beispiel Menschen auf einem schmalen Bürgersteig, erkennen die Spiegelneurone an der Körperhaltung ob der Entgegenkommende nach links oder rechts ausweichen wird oder auf Krawall gebürstet ist und den Zusammenprall provoziert. Das Gleiche gilt für sämtliche Erfahrungen, die das Individuum mit anderen Menschen macht und somit auch für die Akzeptanz oder Ablehnung bestimmter Verhaltensweisen.[1] Die Orte, an denen die Menschen einen für sie entscheidenden Bedeutungsraum entwickeln, sind höchst unterschiedlich und reichen vom Arbeitsplatz und der Hausgemeinschaft bis hin zur Stammkneipe und dem Sportverein. Was vordergründig als Unterhaltung oder Ablenkung erscheinen mag, ist jedoch keine Flucht aus dem Alltag, sondern ein sozialer Raum mit dem man sich nicht nur identifiziert, sondern seine Identität erneuert. Wie wichtig dieser Raum für die individuelle Psyche ist, spürt man spätestens, wenn man von ihm, wie im Gefängnis, ausgeschlossen wird oder eben die Kneipe, der Verein oder das Einkaufszentrum zumacht.
Vieles was bei der zunehmenden Digitalisierung als soziale Errungenschaft oder gar Bewusstseinserweiterung gepriesen wird, hat sich längst ins Gegenteil verkehrt. Wer sich stundenlang in den so genannten sozialen Netzen bewegt, landet häufig in einer Echoblase der Gleichgesinnten, die keine neuen Erfahrungen machen, sondern die altbekannten lediglich festigen. Im Netz kann man zwar unzählige sogenannte Freundinnen und Freunde gewinnen, doch im realen Leben findet man häufig niemanden mehr, bei dem man sich ausheulen oder von dem man sich trösten lassen kann. Tanja Blokland fragt in ihrem oben zitierten Artikel: „Macht es wirklich einen so großen Unterschied, dass wir jetzt im Home-Office arbeiten und auch von zu Hause einkaufen? Ja, es macht einen Unterschied. Übermäßiges Zu-Hause-Bleiben wirkt sich auf das soziale Gefüge der Stadt aus.“[2] Warenhäuser und Einkaufsstraßen lassen sich zwar durch den Onlinehandel ersetzen, sind aber auch Begegnungsstätten, in denen man Menschen beobachten, sich selbst inszenieren oder über andere die Nase rümpfen kann. Letztlich ist das Kaufen weniger wichtig ist, als das Sehen und gesehen werden, weil Einkaufsstraßen nicht nur ein Jahrmarkt der Eitelkeiten oder des Naserümpfens sind, sondern auch das Sozialverhalten prägen. Noch problematischer scheinen mir die Lobgesänge auf das Home-Office, das sich wahrscheinlich länger halten wird, weil es den Unternehmen beachtliche Kosten spart, ein perfektes Kontrollinstrument ist und die Solidarität der Beschäftigten erschwert. „Einer repräsentativen Umfrage des Bitkom zufolge arbeiten mittlerweile 49 Prozent der Berufstätigen im Home-Office. 41 Prozent geben an, ihre Tätigkeit sei grundsätzlich nicht für Home-Office geeignet.“[3] Erstaunlich dabei ist nicht nur die schnelle Ausweitung der Arbeit im Home-Office, sondern wie wenig registriert wird, dass es sich bei diesem angeblichen Fortschritt um die seit Jahrhunderten praktizierte und von den Gewerkschaften bekämpfte Heimarbeit handelt.
Harald Werner 26.8.20
[1] Vergl. Joachim Bauer, Warum ich fühle was Du fühlst, Hamburg 2006, S.13 ff
[2] Tanja Blokland a.o.O.
[3] https://www.pbs-business.de/news/monitor/20-03-2020-verbreitung-von-home-office-nimmt-deutlich-zu/
Es ist erstaunlich, mit welcher Akribie in der gegenwärtigen Krise medizinische Tatsache und wirtschaftliche Entwicklungen registriert und veröffentlicht werden, kaum aber jemand die psychischen Auswirkungen untersucht. Infizierte, Genesende, Tote sind eine Kategorie der Coronakrise. Eine weitere ist die Ohnmacht der Eltern, die Langeweile der Kinder, der Verlassenheit der Pflegebedürftigen und der Schmerz der Hinterbliebenen.[1] Viel zu wenig wird von der herrschenden Politik zur Kenntnis genommen, dass das Herunterfahren des öffentlichen Lebens nicht nur Unbequemlichkeiten mit sich bringt, sondern auch Ängste schürt. Die Menschen fühlen sich plötzlich wie Fremde im eigenen Haus und empfinden dies als Kontrollverlust. Es steigt die Zahl familiärer Konflikte, aber auch die Fälle häuslicher Gewalt nehmen zu und immer wieder sind die sozial Benachteiligten am stärksten davon betroffen. Wenn die Krise überwunden ist, wird sich zeigen, dass Corona die ärmsten der Armen aber auch die Soloselbständigen am stärksten in Mitleidenschaft gezogen hat.
Man sollte meinen, dass nach einer so tiefgreifenden Krise der Gesellschaft, der Egoismus zunimmt, doch momentan scheint das Gegenteil zu geschehen. Nicht allein, dass sich mehr Nachbarn um ihre Nachbarn kümmerten, es verstärkten sich auch solidarische und emanzipatorische Bewegungen, wie etwa die Versorgung von Obdachlosen und die Solidarität mit rassisch Verfolgten. Als hätte man nicht genügend mit seinen eigenen Benachteiligungen zu tun, entfaltete sich nach dem durch einen Polizisten getöteten Schwarzen George Floyd eine Protestbewegung, wie sie die USA schon lange nicht mehr erlebt hatte und die sich nach und nach auf Europa ausdehnte. In der BRD erinnerte man sich an die Versklavung der Ureinwohner von Nabia durch kaiserliche Truppen und forderte die Umbenennung von Straßen und die Beseitigung von Denkmälern kaiserlicher Generäle, die in Deutsch-Südwestafrika Völkermord begangen hatten.
Ökonomische Krisen gehören seit zweieinhalb Jahrhunderten zum Kapitalismus, wie der Wechsel der Jahreszeiten. Daran haben wir uns gewöhnt, doch nun haben wir es nicht mehr nur mit dem Zyklus ökonomischer und daraus folgender politischer Krisen zu tun, sondern mit globalen Krisen, wie etwa der Klimakrise und jetzt mit der Carona-Pandemie. Beide haben keine ökonomischen Ursachen, sind aber nur lösbar, wenn die Menschheit ihre Produktions- und Lebensweise grundlegend verändert. Im Prinzip handelt es sich also um eine globale Systemkrise. Um eine Epoche, die Antonio Gramsci als Interregium beschreibt, wo „das Alte stirbt und das Neue noch nicht zur Welt kommen kann.“[2] Das Zitat von Gramsci atmet jedoch immer noch den historischen Optimismus, dass das Neue bereits vorhanden ist. Doch das Neue, welches die Zivilisation vor einer globalen Katstrophe retten könnte, hat dazu erstens nur noch wenige Jahrzehnte Zeit und zweitens fehlt genau das, was jede Revolution braucht, nämlich ein „revolutionäres Subjekt“. Eine Klasse also, von der Marx und Engels sagten, dass sie bei der Durchsetzung ihrer materiellen Interessen, nicht nur sich selbst, sondern die ganze Gesellschaft mit befreit. Für Marx und Engels war das erst die Bourgeoisie und in der Perspektive die Arbeiterklasse, von der man heute leider nicht sagen kann, dass sie bei der Durchsetzung ihrer materiellen Interessen gleichzeitig die Interessen der Menschheit durchsetzt. Man darf dabei sowohl an die Beschäftigten in den Kohleregionen und noch mehr an die Autoindustrie denken.
Ich halte diese Tatsache trotzdem nicht für eine Krise der marxschen Klassentheorie, sondern nur ihrer traditionellen Lesart. Marx und Engels hatten nämlich nicht allein die „Klasse gegenüber dem Kapital“ im Blick, sondern die „Klasse für sich selbst“, die sich ihrer „historischen Mission“ erst bewusst werden muss. Die Bildung einer sich selbst bewussten Klasse hing schon immer davon ab, dass Menschen mit konkret unterschiedlichem sozialen Status und gegensätzlichen Bedürfnissen ihre gemeinsame „historische Mission“ entdeckten. Warum soll es nicht möglich sein, dass Daimler-Beschäftigte und die Schüler*innen von Friday for Future das gleiche Bedürfnis nach einem ökologischen Umbau der Industrie entdecken?
Die Corona-Krise hat auch mit aller Macht die Krise der internationalen Politik offenbart. Was sich vor allem in den völlig gegensätzlichen Reaktionen der Nationalstaaten und die Hilflosigkeit der Vereinten Nationen zeigte. Und Trump nutzte nicht nur die in China begonnene Pandemie um seinen Konflikt mit der chinesischen Handelspolitik zuzuspitzen, sondern verließ sogar, ausgerechnet in einer globalen Gesundheitskrise, die Weltgesundheitsorganisation.
Paradoxerweise hat die Corona-Pandemie politische und ökonomische Praktiken erschüttert, die bisher als alternativlos galten. Plötzlich beschwörte der deutsche Finanzminister nicht mehr die schwarze Null des Bundeshaushalts, sondern schüttete Milliarden Helikoptergeld über das Land, um Kurzarbeitergeld zu finanzieren, Betriebe zu retten und den Konsum zu beflügeln. Eine angebotsorientierte Politik, die seit Jahrzehnten als alternativlos galt, erinnerte sich plötzlich an Keynes, nahm Schulden auf, um Arbeitsplätze zu sichern und Wachstum zu generieren. Plötzlich wurde zugegeben, dass das Gesundheitssystem kaputt gespart wurde, das Personal unterbezahlt ist und es sogar an Notfallbetten fehlte. Auf einmal schien die Krise sogar ein ökologisches Umdenken zu bewirken. Generationen schien der klimaschädliche Flugverkehr nicht einzudämmen, doch in der Krise konnte er um 90 Prozent schrumpfen und die Bahn entdeckte plötzlich, dass sie bei ihrem gegenwärtigen Zustand keinesfalls in der Lage ist, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Die Einsicht kommt freilich zu spät, denn die Weichen hätten schon vor Jahrzehnten gestellt werden müssen, nämlich durch zusätzliche Gleise für den Güterverkehr.
Keine Frage, dass die ökonomischen Fehlentwicklungen durch die neoliberale Modernisierung verursacht wurden. Und das gilt nicht nur für die BRD, sondern auch für die Weltökonomie. Über Jahrzehnte wurde die internationale Arbeitsteilung vertieft und die so genannte verlängerte Werkbank ausgebaut. Angeblich, um die unterentwickelten Länder am wissenschaftlich-technischen Fortschritt zu beteiligen, wurde eine neue, internationale Arbeitsteilung entwickelt, die letztlich kein anderes Ziel hatte, als Arbeitskosten zu senken und neue Märkte zu erschließen. Dank Digitalisierung entstand ein globales Netzwerk von Produktions- und Lieferketten, das sich in der Corona-Pandemie als äußerst anfällig erwies. Just-in-Time-Ketten zerrissen und führten zu massiven Produktionsstörungen in den entwickelten Industriestaaten. Das führte zu der paradoxen Situation, dass Deutschland nicht einmal genügend Schutzmasten erhalten konnte und es an Medikamenten fehlte, weil deren Grundstoffe in Indien und China produziert wurden.
Schon haben die Konzerne begonnen, Produktionen zurück in ins eigene Land zu holen um die Störanfälligkeit der Lieferketten zu minimieren. Das jedoch hat jetzt schon fatale Folgen für die einheimische Bevölkerung. Denn wenn sich die Konzerne zurückziehen, hinterlassen sie in den weniger entwickelten Ländern vor allem Massenarbeitslosigkeit und Armut. Inzwischen sollen wegen des Rückzugs der Textilkonzerne allein in Bangladesch eine Million der insgesamt vier Millionen Textilarbeiter*innen arbeitslos sein.“[3] Daran wird sich so schnell nichts ändern, weil die lokale Subsistenz-Wirtschaft durch die Industrialisierung zerstört wurde.
[1] „Angst essen Seele auf“ Tagesspiegel 5. Juli 2020
[2] Zitiert in: Marxistische Blätter 6/2017, S. 137
[3] Blätter für deutsche und internationale Politik, 5 - 20, S.18
Marx und Engels haben nicht daran gezweifelt, dass der Kapitalismus nicht nur die Arbeit ausbeutet, sondern auch die Natur zerstört. So schrieb Marx im Kapital: „Mit dem wachsenden Übergewicht der städtischen Bevölkerung, die sie in großen Zentren zusammenhäuft, häuft die kapitalistische Produktion einerseits die geschichtliche Bewegungskraft der Gesellschaft, stört sie andererseits den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, d.h. die Rückkehr der vom Menschen in der Form von Nahrungs- und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenbestandteile, also die ewige Naturbedingung dauernder Bodenfruchtbarkeit.“[1] Heute wissen wir, dass die durch die kapitalistische Produktionsweise vernichtete Bodenfruchtbarkeit nicht das alleinige durch den Kapitalismus verursachte Problem ist, sondern mehr noch das sinnlich kaum wahrnehmbare Artensterben.
Mit dem Thema Artensterben verbinden wir die Vorstellung, dass vor allem ganze Tierarten auszusterben drohen, wie etwa der Eisbär oder der Gorilla verschwinden und Bienenvölker sterben. Und hier gibt es auch Strategien, dem sichtbaren Artensterben entgegenzuwirken. Es werden Schutzzonen eingerichtet, Jagdverbote verhängt und die Ausbringung von Pestiziden beschränkt. Doch seit der Corona-Pandemie ist es kein Geheimnis mehr, dass das Artensterben Seuchen verursacht. Je mehr der Mensch in Naturräume einbricht, desto mehr sterben nicht nur Tiere und Pflanzen sondern es kommen auch Mikroorganismen unter Druck. Und diese sterben nicht etwa aus, wie Tiere oder Pflanzenarten verschwinden, sondern sie mutieren zu gefährlichen Krankheitserregern.
„Für Wissenschaftler*innen, die sich mit dem Phänomen der Übertragung von Viren auf Wildtiere und von da auf den Menschen beschäftigen, ist das Auftreten von Covid-19 keine Überraschung: Schon 2005 warnte die Virologin Zheng-Li Shi vom Wuhan Institute of Virology davor, dass Coronaviren in Fledermäusen auf Menschen übertragen werden und Pandemien auslösen können.“[2] Es ist nämlich etwas gänzlich anderes, ob eine Tierart durch das Eindringen des Menschen verdrängt wird oder ein quick lebendiger Mikroorganismus entsteht, der Millionen das Leben kostet. Natürlich konnte die Wissenschaft bisher, nach Millionen Toten, immer wieder den Erreger finden und meistens einen Impfstoff entwickeln, aber es bleibt ein nicht gewinnbarer Wettlauf zwischen der Mutationsfähigkeit der Viren und dem Fortschritt der Forschung.[3]
Profitabler und gedankenloser Naturverbrauch
Die durch das Artensterben verursachte Krise scheint vor der gleichen Herausforderung zu stehen, wie die Klimakrise, bei der es vor allem um die Reduzierung klimaschädlicher Emissionen in der Energiewirtschaft, im Verkehr und in der Industrie geht. Aber auch wenn sich die Begrenzung des Co2-Austoßes positiv auf den Artenschutz auswirken wird, bleibt das größere Problem der unaufhörlich zunehmende Naturverbrauch, der durch nichts mehr vorangetrieben wird, als durch die Verwandlung der Naturressourcen in Profit abwerfende Tauschwerte. Und während die Klimakiller allgemein bekannt sind und inzwischen selbst der Alltagsverstand weiß, dass Industrie und Energiewirtschaft Grenzen gesetzt werden müssen, spielt der bedrohliche Naturverbrauch kaum eine Rolle. Vor allem deshalb nicht, weil er mit scheinbar positiven Entwicklungen einhergeht. Wer denkt schon daran, dass die Produktion von Bio-Sprit Arten vernichtet, Rosen aus Afrika den Grundwasserspiegel senken und die Millionen Jahresurlauber auf Mallorca das Artensterben beschleunigen. Bei alledem muss man sich vor Augen halten, dass der Naturverbrauch nicht schlichter Gedankenlosigkeit zu verdanken ist, sondern durch gut kalkulierte Anlagestrategien verursacht wird.
Um eine einerseits gedankenlose und anderseits scheinbar positive Entwicklung handelt es sich beim Wohnungsbau. Es ist zwar ein großer sozialer Fortschritt, dass sich die durchschnittliche Wohnfläche pro Person in Deutschland gegenüber der Weimarer Republik mehr als verdoppelt hat, doch um sowohl die Klimakatastrophe zu verhindern, als auch das Artensterben aufzuhalten „müssen wir uns von der verschwenderischen Art und Weise, wie wir Häuser bauen und sie bewohnen, ebenso verabschieden wie von den nicht nachhaltigen Siedlungsmustern des Fossilen Zeitalters.“[4] Wobei man bedenken muss, dass der weitaus größte Teil der Menschheit unter jämmerlichen Wohnverhältnissen zu leiden hat. Aber auch diese Verhältnisse lassen sich nur ändern, wenn Wohnen keine Ware ist und seine Produktion, wie sein Preis nicht dem Markt überlassen wird.
[1] MEW 23, S. 582
[2] IWF Newsletter vom 02.04.2020 Corona-Virus: Wie uns Artenschutz vor Krankheiten schützen kann
[3] Was übrigens nicht für AIDS gilt, dessen Herkunft erst jetzt, nach über zehnjähriger Forschung entdeckt wurde, nämlich in einer Schimpansenpopulation. Wahrscheinlich hat das Virus den Menschen durch die Verzehrung von Affenfleisch erreicht.
[4] Thesen zur sozialkökologischen Transformation, Sozialismus Supplement zu Heft &/2020