Politiker jeder Parteizugehörigkeit neigen zu einer Überschätzung ihrer eigenen Handlungsfähigkeit und übersehen dabei meistens, dass sie weniger durch ihre eigene Überzeugung, als durch die politische Gesamtkonstellation gelenkt werden. Die aktuelle Lage Deutschlands ist durch Widersprüche geprägt, die aus dem beschleunigten Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft in den vergangenen zehn Jahren entstanden sind. Wirtschaftlich betrachtet hat das Land eine neoliberale Rosskur absolviert, die einerseits neues Wachstum und gestiegene Renditen aber auch neue Beschäftigung generierte aber andererseits den Sozialstaat aushöhlte, die Kluft zwischen arm und reich drastisch vertiefte und die Beschäftigten in ihrer Lage um Jahrzehnte zurückwarf. Es kann gar nicht ausbleiben, dass diese Entwicklung Widerstand produziert und das Pendel früher oder später in die andere Richtung umschlägt. Welche Kräfte da wirken zeigt die Streikentwicklung der vergangenen beiden Jahre aber auch die abnehmende Akzeptanz des Wirtschaftssystems und seiner Elite.
Betrachtet man nach der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung den Zustand der Politik, dann befindet sich auch diese in einer tiefen Legitimationskrise. Die im Zuge der neoliberalen Modernisierung versprochenen Ergebnisse sind für mindestens zwei Drittel der Bevölkerung ausgeblieben oder haben sich ins Gegenteil verkehrt. Wobei dies niemandem mehr angelastet wird als den Sozialdemokraten. Alle sozialen Grausamkeiten der letzten Jahre verbinden sich mit der Erinnerung an die rot-grüne Bundesregierung und wenn die SPD jemals wieder aus ihrem Allzeitztief bei Wahlen und Umfrageergebnisse auftauchen will, muss sie einen radikalen Strich unter diese Etappe ziehen. Das mag schwer fallen, aber es ist das, was ihre enttäuschten Wählerinnen und Wähler am ehesten erwarten. Dass die Union von diesem Niedergang der SPD nicht unbedingt profitiert, zeigt ihr eigner Schwund bei den Umfragewerten. Konsequent, dass in dieser Situation die kleinen Parteien, vor allem aber DIE LINKE profitiert. Und während die letztere enttäuschte Sozialdemokraten anzieht, gewinnen FDP und Grüne bei der Union.
Dieser in der Geschichte der BRD einmalige Umbruch in der Parteienlandschaft ist allerdings in einer Hinsicht überhaupt nicht spektakulär, nämlich im Rechts-Links-Verhältnis. Die Rechte sitzt fest im Sattel, wenn man die mehrheitlich auf dieses Wirtschaftssystem festgelegten Grünen einrechnet. Und man muss der Union zugestehen, dass sie sich in dieser Hinsicht ausgesprochen klug verhält. Sie vermeidet neue soziale Grausamkeiten, die CSU und „Arbeiterführer“ Rüttgers üben sich sogar in Sozialkritik und Merkel unternimmt alles, um der Wirtschaftspartei einen grünen Anstrich zu verpassen. Typisch auch, dass Ole von Beust, einer der entscheidenden neoliberalen Modernisierer, als erster Landeschef Schwarz-Grün auf den Weg bringt. Nur eines könnte die Neuformierung des rechten Blocks beeinträchtigen, nämlich eine Stärkung der Linken. Und deshalb werden sämtliche Register gezogen, um zwischen SPD und Linkspartei eine Kontaktsperre zu verhängen. Im Übrigen ist es höchst bemerkenswert, dass in diesem Bemühen die Blätter des Springerkonzerns wieder zu ihrer alten Kampagnenfähigkeit zurückfinden.
Nun reagiert die SPD höchst unterschiedlich, aber ihr wird permanent die Gretchenfrage gestellt, wie sie es nämlich mit der Linken hält, weshalb sie sich mit einer Frage beschäftigen muss, die sie am liebsten ignorieren möchte. Ungewollt kommen dabei strategische Perspektiven ins Gespräch, die auch DIE LINKE nicht in alle ihren Spektren ausdiskutiert hat. Kann es in diesem Land nicht nur eine Linksverschiebung, sondern eine auch veränderungsfähige Linke ohne Kooperation mit der SPD geben? Und ist eine solche Kooperation überhaupt denkbar, wenn sie nicht jetzt schon, nämlich auf Kommunal- und Landesebene praktisch probiert wird. Und man mag das rot-rote Berlin unterschiedlich bewerten, aber in zumindest einer Hinsicht ist es ein Erfolgsmodell: Die Berliner SPD hat sich aus einem eher rechten Landesverband zum am weitesten links stehenden gemausert.
Harald Werner 23. Juni 2008