Mit dem Aufstieg der AfD und der Erosion des tradierten Parteiensystems ist die BRD in der europäischen Gegenwart angekommen. Bevor man diese europäische Entwicklung als Beginn einer neuen Epoche definiert, muss man klarstellen, dass es sich zunächst nur um das Ende einer Epoche handelt - etwas Neues ist nicht in Sichtweite. Überhaupt konnte es nach dem Verschwinden des Systemgegensatzes nicht ausbleiben, dass in Europa allmählich auch der Gegensatz von linkem und rechtem Lager erodiert. Das alte Koordinatensystem existiert nicht mehr und ein neues gibt’s noch nicht. Sowohl das linke als auch das bürgerliche Lager leiden darunter, dass ihnen ihre Identität abhanden gekommen ist. Keines der beiden Lager ist allein mehrheitsfähig und in dem entstandenen Vakuum blüht der Rechtspopulismus. Erinnert das nicht auf dubiose Weise an Gorbatschows Prophezeiung: „wir werden euch etwas Fürchterliches tun, wir werden euch den Feind nehmen“? Das Ganze erinnert an Gramscis Interregnum. Eine Krise in der das Alte nicht mehr besteht und sich das Neue noch nicht herausbilden kann.
Wir haben uns daran gewöhnt, seit Jahren von der Schwäche der Linken zu reden, ohne zu registrieren, dass der bürgerliche Block ebenfalls erodiert. Nicht allein weil ihm der linke Feind abhanden gekommen ist, sondern mehr noch durch die neoliberalen Globalisierung. Diese hat auf der einen Seite die sozialstaatliche Rücksichtnahme des bürgerlichen Lagers beseitigt und andererseits den Eindruck aufkommen lassen, dass es seine nationale Bodenhaftung verloren hat.
Was den Menschen gegenwärtig Angst macht, ob sie nun links oder rechts wählen, ist der zunehmende Kontrollverlust. Auch wer sich nicht sonderlich für Politik interessiert, kann sich nicht des Eindrucks entziehen, dass die da oben nicht mehr können, was man unten von ihnen erwartet. Die Krise der Repräsentanz, wie Politikwissenschaftler die Situation bezeichnen, begünstigt einerseits immer größere Wählerwanderungen, stärkt aber anderseits den Rechtspopulismus, der die Komplexität der Politik auf einfache Lösungen reduziert. Das Problem ist aber nicht nur der wachsende Rechtspopulismus oder die Neigung des bürgerlichen Lagers, sich selbst nach rechts zu bewegen, sondern eine allgemein zunehmende Unterkomplexität der politischen Kommunikation. Sie drückt sich nicht nur in der Propagierung einfacher politischer Lösungen aus, sondern auch in der zunehmenden Personalisierung politischer Optionen. Man muss da nicht nur an Trump, Le Pen oder Erdogan denken, sondern auch an Macron. Je mehr politische Programme durch populäre Personen ersetzt werden, desto ärmer wird der gesellschaftliche Diskurs und desto überflüssiger diskutierende Parteien. Deutschland scheint davon noch weit entfernt, denn bei aller Fokussierung des letzten Bundestagswahlkampfes auf das Duell zwischen Merkel und Schulz, zeigen gerade die Probleme der Koalitionsbildung, wie mächtig immer noch die im Hintergrund agierenden Parteiströmungen sind.
Von Beginn an war das rot-rot-grüne Projekt eine Kopfgeburt. Einmal weil es das Projekt weniger prominenter Linker war, vor allem aber durch seine Konzentration auf das Ausloten eines Regierungsbündnisses. Das nach den ernüchternden Ergebnissen der Bundestagswahl zu wiederholen, würde mehr Spott als Begeisterung auslösen. Sehr viel notwendiger und auch erfolgreicher wäre ein aktionsbezogenes Zusammenwachsen der Basisorganisationen, das von Anfang an den Eindruck eines bloßen Parteibündnisses vermeiden müsste. Dabei darf es nicht um Schnittmengen oder rote Linien der beteiligten Parteien gehen, sondern um gemeinsame Projekte mit Menschen, die man für eine alternative Politik im Wohnbereich oder in den öffentlichen Diensten gewinnen will. Das aber wird nur gelingen, wenn dafür parteilose Akteure gewonnen werden, die nicht wegen, sondern trotz der Parteien mitmachen. Dabei muss es um konkrete Probleme gehen, für die zunächst eine Bestandsaufnahme notwendig ist, aus der sich dann wirklich zu erkämpfende Ziele ergeben und schließlich gemeinsame Kampagnen entwickeln. Je mehr dabei die Parteien in den Hintergrund treten, desto konkreter und auch erfolgreicher werden solche rot-rot-grünen Basisprojekte werden.
Der für Sozialdemokraten und Grüne ernüchternde bis katastrophale Ausgang der Bundestagswahl wird die Begründung eines neuen rot-rot-grünen Basisprojekts nicht einfach machen. Die SPD wird und muss versuchen, sich das Profil einer entschieden sozialen und auch kapitalismuskritischen Opposition zu geben und den linken Grünen drohen, angesichts des übermächtigen Realoflügels Marginalisierung und Mitgliederverluste. Umso bedeutsamer dürfte die Rolle der LINKEN sein, die weniger als die anderen mit Richtungsproblemen, wohl aber mit Problemen ihrer Basisstrukturen zu kämpfen hat. Ihre Kampagnenfähigkeit ist schwach, sie leidet unter der einseitigen Orientierung der Partei- und Fraktionsspitze an den Massenmedien und ihre Basisversammlungen zeichnen sich nicht durch Diskussionen aus, die Außenstehende prickelnd finden. Trotzdem kommt ihr auf Grund der inneren Situation ihrer möglichen Partnerinnen und Partner eine entscheide Rolle zu. Aber auch sie muss sich neu erfinden, wenn sie zur treibenden Kraft eines rot-rot-grünen Basisprojekts werden will.
Harald Werner 30.10.17