Dass sich das nachgefragte Arbeitsvolumen im gleichen Maße vermindert, wie die Produktivität der Arbeit durch verbesserte Technik steigt, ist nicht neu, hat sich aber durch die Digitalisierung erheblich beschleunigt, weil sie vor allem geistige Arbeit wegrationalisiert. Wo früher hauptsächlich Arbeitskräfte aus den Fabrikhallen verschwanden, verschwinden sie heute aus den Büros. Hinzu kommt, dass die neuen Internetdienste mit einem Minimum an Arbeitskraft gewaltige Umsätze und Profite akkumulieren, so dass sich dort immer mehr Kapital anlegt. Telekommunikation und IT Branche sind in der Bundesrepublik inzwischen die größten Arbeitgeber und lassen die Produktionsunternehmen weit hinter sich.
Die Prognosen über die Arbeitsnachfrage der Zukunft schwanken zwischen vorsichtigem Optimismus und pessimistischen Annahmen. So rechnet das deutsche Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung mit einem Verlust von 1,5 Millionen Arbeitsplätzen, glaubt aber, dass ebenso viel neue entstehen werden.[1] Skeptischer fällt eine Untersuchung des Weltwirtschaftsforums in Davos aus, das den Industrieländern bis 2020 einen Verlust von sieben Millionen wegfallenden und nur fünf Millionen neuen Arbeitsplätzen prognostiziert.[2] In einem aber sind sie sich alle einig, sie beziehen sich lediglich auf den technologischen Wandel des Bestehenden, nicht aber auf den tatsächlichen, gesellschaftlichen Arbeitsbedarf. Man kalkuliert wie viele Arbeitsplätze durch die Digitalisierung in der Industrie, in den Dienstleistungen und auch in der öffentlichen Verwaltung verschwinden werden, nicht aber was notwendig ist, um die gesellschaftliche Reproduktion zu gewährleisten. Im Schatten der immer produktiveren Industrie und des ungeheuren Wachstums kommerzieller Dienstleistungen verrottet die öffentliche Infrastruktur und während die Digitalisierung immer schnellere Arbeitsabläufe ermöglicht, verlangsamt sich das Handeln der vom Spardiktat gebeutelten öffentlichen Verwaltung, der es weniger an Computern, als an Personal mangelt. Das Gleiche an Schulen und Hochschulen oder in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und in der Justiz.
Der Neoliberalismus hat für die Wettbewerbsfähigkeit der Staaten den Begriff der „weichen Standortvorteile“ gefunden, doch genau die vernichtet er gerade dort, wo sie am wichtigsten sind. Deutschland hat die schnellste Erneuerungsrate in der Industrie, und die langsamste bei der Erneuerung des Schienennetzes sowie der Sanierung schadhafter Straßen und Brücken. Berlin rühmt sich des schnellen Wachstums seiner Startups in der digitalen Wirtschaft, ist aber unfähig, in 14 Jahren einen Flughafen zu bauen, baufällige Schulen zu sanieren oder den Wohnungsbau voranzutreiben, weil es nicht an Geld mangelt, sondern an Planungskapazitäten in der Verwaltung. Nach Angaben des Beamtenbundes können in den kommunalen Verwaltungen 138.000 Stellen nicht besetzt werden, darunter 130.000 in den Erziehungseinrichtungen. Der Grund ist kein Mangel an erwerbsfähigen, sondern an ausgebildeten Menschen. Etwa eine halbe Million Arbeitsloser ist nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit aus diesem Grund nicht vermittelbar. Das brachliegende Arbeitsvermögen wird begierig von Wirtschaftsbereichen mit prekärer Beschäftigung aufgegriffen, in denen keine Tarifbindung besteht. Daran hat auch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes nichts geändert, zumal Berechnungen des WSI ergeben, dass 1,8 Millionen Beschäftigte nicht einmal den Mindestlohn erhalten.
Adam Smith konnte noch behaupten, dass „der Reichtum der Nationen“ durch Wettbewerb und Marktsteuerung gefördert wird, heute ist es umgekehrt: Je schärfer der Wettbewerb und je mehr die gesellschaftliche Entwicklung dem Markt überlassen bleibt, desto ärmer werden die Gesellschaften. Nicht nur durch den stockenden Armutssockel, sondern mehr noch durch das Brachliegen menschlicher Schöpferkraft. Ein Kapitalismus, der einen immer größeren Teil des vorhandenen Arbeitsvermögens nicht mehr ausbeuten kann, sondern durch Hartz IV alimentieren muss, ist selbst in einer prekären Lage.
Marx hat diese Entwicklung in einem geradezu prophetischen Text beschrieben, in dem er den „Diebstahl an fremder Arbeitszeit “als „eine miserable Grundlage des Reichtums“ beschreibt. Statt dessen tritt der Mensch in der modernen Industrie „neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper ? in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint.“[3]
Linke konzentrieren sich in ihrer Kapitalismuskritik – und das mit Recht – auf den sich vertiefenden Widerspruch zwischen explodierenden Vermögenseinkommen und stagnierenden Masseneinkommen. Doch zerstörerischer als die materielle Ausbeutung ist die Unterentwicklung des Gemeinwesens und das Verkümmern menschlicher Fähigkeiten. Während der Neoliberalismus unaufhörlich beklagt, dass der öffentliche Sektor über seine Verhältnisse lebt, bleibt er in Wirklichkeit unter seinen Möglichkeiten.
Harald Werner 7. Mai 2018
harald-werner-berlin@t-online.de
[1] IAB-Forschungsbericht 13/2016, Aktuelle Ergebnisse aus der Projektarbeit des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
[2] „Roboter in der Wirtschaft: Millionen Jobs fallen weg.“, FAZ v. 17.1.2018.
[3] Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 42, S. 590-609 [Fixes Kapital und Entwicklung der Gesellschaft]. (In der deutschen Erstausgabe der „Grundrisse“, Berlin/DDR 1953: S. 581-602).