Die positive Seite der aktuellen Diskussion über die Flüchtlingsfrage zeigt sich darin, dass die Argumentation „das Boot ist voll“ ebenso zurück gedrängt wurde, wie der Begriff von der „Festung Europa“ nicht nur von links, sondern auch aus der Mitte der Gesellschaft heraus kritisiert wird. Noch nie in den letzten Jahrzehnten ist so deutlich geworden, dass dieses Land in den 1960er und 1970er Jahren eine Entwicklung durchlaufen hat, die es liberaler und humanistischer machte. Umso verständlicher, dass die extreme Rechte die aktuelle Flüchtlingskrise nutzt, um längst tot geglaubten Ideologien neues Leben einzuhauchen.
Weißmann argumentiert nicht, sondern beschwört einen alten Mythos, nämlich den Wunsch der liberalen, europäischen Gesellschaft nach „kollektiver Auflösung“. Er kritisiert ihr „Schuldbewusstsein, die permanente Zerknirschung, den Mangel an Stolz und Entschlusskraft“ und „eine Religiosität, die unter allen Umständen im Nächsten den Bruder sehen will.“ Letztendlich geht es also um den alten Sozialdarwinismus, der das Erbe der Aufklärung und die Erklärung der Menschenrechte angreift. Das ist nicht neu, hat das Denken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt, existiert heute aber überwiegend als ideologische Sumpfblüte, die hier und da im Neoliberalismus sichtbar wird. Allerdings, und das macht sie gefährlich, findet sie in der Hilflosigkeit, wie die Politik auf die Herausforderung der Flüchtlingsprobleme reagiert, einen außerordentlich fruchtbaren Nährboden.
Harald Werner 2. September 2015