Wer sich mit mehr oder weniger Mühe seinen Marxismus aneignete, mit Marx- und Engels-Zungen zu argumentieren gelernt hat und stolz auf seine „wissenschaftliche Weltanschauung“ ist, kann mit dem Begriff Populismus häufig wenig anfangen. Dabei haben sich schon Marx und Engels alle Mühe gegeben, ihre schwere theoretische Kost zu popularisieren, um sie in Arbeitervereinen referieren zu können. Und vom Gramsci wissen wir, dass gesellschaftliche Hegemonie nicht ohne Popularisierung zu gewinnen ist. Populismus ist eben nicht gleich Populismus, sondern zunächst einmal eine bestimmte Form der sprachlichen oder symbolischen Argumentation, die an das Alltagsbewusstsein anknüpft, aber sehr unterschiedliche Inhalte transportieren und gegensätzliche Ziele verfolgen kann.
Während der rechte Populismus spaltet und andere Menschen ausgrenzt, will sie der linke zusammenführen und in ein gemeinsames Projekt integrieren. Was beide allerdings eint, das ist ihr Anknüpfen ans Alltagsbewusstsein, sowie die Verwendung gängiger Sprachformen und Metaphern. Dabei hat es der rechte Populismus natürlich deutlich leichter als der linke, weil er das Alltagsbewusstsein nicht verändern, sondern nur bestätigen und selektiv ausschlachten will. Der linke Populismus will dagegen Widersprüche kenntlich machen, der rechte ebnet sie ein. Insofern lässt sich kaum etwas vom Rechtspopulismus lernen, außer seiner Fähigkeit zur Verallgemeinerung selektiver Alltagserfahrungen.
Die Heimat des linken Populismus liegt in Lateinamerika, wo Sozialisten und Kommunisten vor dem Problem standen, dass die unteren Klassen sozialökonomisch und kulturell äußerst uneinheitlich waren und die Arbeiterklasse schon rein zahlenmäßig keine führende Rolle übernehmen konnte. Anders als in Westeuropa, wo die Arbeiterklasse nicht nur direkt mit dem großen Kapital konfrontiert war, sondern sich auch durch den gemeinsamen, sich ständig wiederholenden Kampf um Lohn und Leistung formieren konnte, gliederten sich die Unterdrückten Lateinamerikas in stark unterschiedliche soziale Gruppen, die nicht nur unterschiedliche, sondern häufig auch gegensätzliche soziale Ansprüche erhoben. Den einen ging es um Brot, den anderen um Bildung, wieder anderen um Land oder medizinische Versorgung, so dass eine rationale, alle verbindende Programmatik nicht nur vor inhaltlichen, sondern zusätzlich auch vor kulturell kaum zu lösenden Problemen stand.
Eine ähnliche Situation stellte sich im Frühjahr 1917 auch den Bolschewiki in Russland, als es darum ging kriegsmüde Soldaten, landlose Bauern, hungernde Stadtbürger und verfolgte Demokraten zusammenzuführen. So lautete denn auch die zündende, alle verbindende Parole in den Aprilthesen: „Friede – Freiheit, Land und Brot!“. Populismus heißt dementsprechend eine Politik zu betreiben, in der die Komplexität der verschiedenen Ansprüche auf eine Parole oder Symbolik reduziert wird. Laclau nennt dies eine „Äquivalenzkette“ und bezeichnet sie als „die erste notwendige Voraussetzung dafür, dass populare Klassen sich als kollektiver Akteur herausbilden.“[2] Diese Formierung als „Klasse für sich selbst“ entsteht eben nicht, anders als die klassische Formierung der Arbeiterklasse, aus dem unausweichlichen gemeinsamen Kampf um Lohn und Leistung, sondern nach Gramsci aus einer „hegemonialen Operation“ Mit Bezug auf ihn schreibt Laclau: „Die hegemoniale Kraft einer soziopolitischen Formation ist keine bestehende Identität“, sie muss erst „konstruiert“ werden.[3] Konstruiert heißt jedoch nicht, dass diese Formation von außen in Form gebracht werden kann, indem man die unterschiedlichen Ansprüche in ein alle befriedigendes Programm gießt. Es kommt zunächst einmal darauf an, dass die Betroffenen ihre Gemeinsamkeit in wenigen, auf ein besseres Leben gerichteten Ansprüchen, Utopien oder Parolen erkennen – wie etwa in der Parole der Aprilthesen oder aus einem agitatorischen Satz wie in Marx kategorischen Imperativ: „.. alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“[4].
Das Problem der LINKEN besteht häufig darin, dass sie jeder sozialen Gruppe etwas, kaum aber allen etwas gemeinsames anbietet: Ihre Kampagne „Das muss drin sein“ zum Beispiel fast unter diesem Motto so ziemlich alles zusammen, was sich die Menschen in diesem Lande wünschen können: Befristung und Leiharbeit stoppen, Hartz IV durch Mindestsicherung ersetzen, mehr Personal für Pflege, Gesundheit und Bildung, Umverteilung von Arbeit gegen Dauerstress und schließlich auch noch bezahlbaren Wohnraum und Energie. Kein Zweifel, dass sich diese allumfassende Vielfalt in den Köpfen der Planer als Einheit darstellt, in der Realität tut sie es nicht. Als gelungenen linken Populismus kann man jedoch das nebenstehende Plakat der LINKEN einordnen: Ein kurzer, prägnanter Sprachwitz, der mehr Tiefe besitzt, als etwa die dürre Parole „Umverteilen“. Auch kein plumpes „Enteignet die Reichen“, sondern „Reichtum für alle“.
Überhaupt ist das große Problem des linken Populismus die Zusammenfassung der vielfältigen sozialen Ansprüche zu einer Äquivalenzkette. Denn je inhaltlich reichhaltiger diese Kette ist, desto schwerer ist sie in eine sprachliche oder ästhetische Form zu bringen. Und damit nicht genug, kommt die Schwierigkeit hinzu, dass von einer gelungenen Popularisierung erst gesprochen werden kann, wenn sie tatsächlich massenwirksam wird. Was am Schreibtisch erdacht oder entworfen wird, erfüllt seinen Zweck erst, wenn es die „Massen ergreift“.
[1] David Salomon, Krise, „Kunst und Politische Ästhetik“, Zeitschrift Z – Marxistische Erneuerung, Nr. 101, März 2015, S.10
[1] Lenin Werke Band 24
[2] Laclau a.o.O. S. 3
[3] Ebenda S. 6
[4] Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW 1, S. 385
Das Verhältnis von Politik und Ästhetik drückt sich heute nirgendwo besser aus, als in der Inszenierung von Politik in den Medien, wo sich der Spruch auf kuriose Weise bewahrheitet, dass ein Bild mehr als Tausend Worte sagt: Durch den entschiedenen Auftritt, die inszenierte Kompetenz und der Aufmarsch der Macher vor dem farblich und gestalterisch perfekten Hintergrund. Sie scheinen für sich genommen bereits eine ästhetische Botschaft zu sein. In dem Fall handelt es sich aber nicht um politische Ästhetik, sondern um eine Ästhetisierung der Politik: Hier ersetzt die Form den Inhalt, ja sie verbirgt ihn. Politische Ästhetik dagegen ist eine Form der Popularisierung, wo mit ästhetischen Mitteln Politik gemacht wird. David Salomon schreibt dazu: „Konkret bedeutet dies nicht zuletzt, Zusammenhänge zu thematisieren, die dem unmittelbaren Eindruck zunächst verborgen bleiben: etwa zwischen Krieg und Geschäftsinteressen, dem Reichtum der einen und der Armut der anderen, den großen Worten und den Gemeinheiten, die sich hinter ihnen verstecken.“[1]
Damit sind die Probleme einer linken politischen Ästhetik jedoch noch nicht behoben, sondern sie beginnen erst. Was nutzt der originellste Sprachwitz, das beste Plakat wenn es nicht das Alltagsleben erreicht? Was nicht allein eine Frage der massenhaften Plakatierung ist. Der Ort politischer Ästhetik muss die politische Aktion sein, Demonstrationen, Kundgebungen, Versammlungen und andere Orte, wo politische Menschen zusammenkommen. Der linke Populismus hat sich hierzulande wahrscheinlich nie stärker auf eine politische Ästhetik gestützt, als in den 1960er Jahren, wo Plakate und Buttons mit Che Guevara und Ho Chi Minh nicht nur Identitäten ausdrückten, sondern auch Widerstand signalisierten, sei es im öffentlichen Raum, im privaten oder an der eigenen Jacke. Eines der besten Beispiele für die ästhetische Seite des linken Populismus, verdanken wir dem hier abgebildeten Plakat des SDS aus den 1960er Jahren. Es verwendete einen weit verbreiteten, dem Alltagsbewusstsein sehr vertrauten Slogan der Bahn, um ihn auf eine Weise zu verfremden, dass er dem allgemeinen Unbehagen über die herrschende Politik eine provozierende Antwort entgegenhält. Die größte Verbreitung fand das Plakat mit Sicherheit nicht auf der Straße, sondern nach den Universitäten in Kneipen, Wohngemeinschaften und Privathaushalten, wo es zu einer Art Gesinnungsnachweis taugte.
Harald Werner 7.4.2016
[1] David Salomon, Krise, „Kunst und Politische Ästhetik“, Zeitschrift Z – Marxistische Erneuerung, Nr. 101, März 2015, S.10