Die Liste der von der SPD in den GroKo-Verhandlungen erzielten <ins datetime="2018-03-07T12:06" cite="mailto:Werner">Erfolge </ins>ist nicht nur kurz, sondern auch beschämend. Nicht nur, dass sich ihre angeblichen Erfolge an fünf Fingern abzählen lassen, sie hat es nicht einmal versucht, die unter Schröder begangenen sozialen Grausamkeiten rückgängig zu machen. Wenn der ehemalige Bundesminister Heiko Maas erklärte, dass die Koalitionsvereinbarung „stark sozialdemokratisch geprägt“ sei, so hat er zumindest in einem Recht: Die SPD ist ihrem Opportunismus vor allem in der Sache Bürgerversicherung treu geblieben. Das einzige, wirklich dem Anspruch einer Reform entsprechende Ansinnen, verschwand stillschweigend im Papierkorb. Nicht anders der Versuch, die grundlose Verlängerung befristeter Arbeitsverträge abzuschaffen. Auch hier gelang es nicht, eine von der SPD selbst angerichtete soziale Grausamkeit ersatzlos zu beseitigen, sondern sie lediglich minimal zu begrenzen.
Was wirklich zu verhandeln gewesen wäre und eine Linie hätte erkennbar machen können, stand nicht einmal auf der Wunschliste: Nämlich Maßnahmen zur Umverteilung von oben nach unten, eine Bändigung der von den Finanzmärkten getriebenen Akkumulation spekulativen Kapitals und ein Stopp der galoppierenden Verarmung großer Bevölkerungsteile. Nicht anders als die Union gab sich die SPD lieber der Illusion hin, mit ein paar Bildungs-Milliarden, die soziale Spaltung der Gesellschaft eindämmen zu können. Armut wird aber nicht vom Bildungs-, sondern vom Wirtschaftssystem verursacht. Dass die SPD dazu nicht das Geringste zu sagen hatte, entspricht dann leider wirklich einer großen Linie, nämlich der Tendenz, die Wirtschaft der Wirtschaft zu überlassen.
Niemand kann behaupten, dass es links von Union und SPD keine Diskussionen um alternative Entwicklungswege gäbe. Nur entzieht sich der Glaube an eine andere gesellschaftliche Entwicklung auf erstaunliche Weise der Diskussion über eine andere Wirtschaftsweise. Selbst die Grünen formulierten noch Mitte der 80er: „Die Menschheit zerstört gegenwärtig ihre natürlichen Lebensgrundlagen. Die Zerstörung hat offensichtlich mit der inneren Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus zu tun….Dieser muß überwunden werden.“[i] Doch dieser ökologische Antikapitalismus ist längst einer marktkonformen Ökologiepolitik zum Opfer gefallen, die weniger Spuren in der Politik, als in der privaten Lebensweise hinterlassen hat. Hatte es früher unter Linken einmal geheißen „das Private ist politisch und das Politische privat“, so konzentrieren sich heute viele der damaligen Akteur*innen aufs private Gutmenschentum. Seinen Müll zu trennen, Energie zu sparen und seine Einkäufe an Ökosiegeln zu orientieren oder das Auto mit dem Fahrrad zu tauschen ist zu einer Weltanschauung geworden, in der der Kampf für gesellschaftliche Veränderungen hinter dem Bemühen um private Alternativen verschwindet.
Die kleinteiligen Kompromisse des Koalitionsvertrages und der Mangel an großen politischen Linien mag auch daran liegen, dass langsam die Spezies politischer Generalisten ausstirbt und das Terrain von den Experten dominiert wird. Das große Ganze, die umfassende Generallinie wird von den Ressortinteressen verdrängt. Und während die Expertokratie von immer kleineren politischen Feldern immer mehr weiß, verstehen sie immer weniger wohin die Reise geht. Natürlich ist das eine fast unausweichliche Folge einer marktkonformen Politik, die ihre Handlungsfähigkeit für das große Ganze längst verloren hat. Allerdings muss man neidvoll eingestehen, dass die Rechte in dieser Hinsicht lernfähiger als die Linke ist. Aufgeschreckt vom Durchmarsch des Rechtspopulismus, besinnt sich vor allem die CSU wieder auf ihr konservatives Projekt und setzt sogar ein Heimatministerium durch. Der Antimerkelblock ist auf dem besten Wege, eine große konservative Linie durchzusetzen, um nicht nur dem Rechtspopulismus das Wasser abzugraben, sondern auch „klare Kante“ gegen links zu zeigen.
Natürlich lässt sich nicht übersehen, dass der Mangel an großen politischen Linien, vor allem unter ehemals Linken, unlösbar mit dem blamablen Untergang jenes Sozialismus verbunden ist, der angeblich einer großen Linie folgte und am Ende wegen vieler kleiner Punkte zusammenbrach. Nur allzu verständlich, dass sich nach diesem Desasters eine tiefe Skepsis gegen allzu konkrete Zukunftsentwürfe entwickelte. Bekanntlich aber ist auch das Gegenteil eines Fehlers meistens auch nur ein Fehler. Auf die große sozialistische Linie kann man durchaus verzichten, nicht aber auf die große Linie theoretisch begründeter Kapitalismuskritik. Die Politik der Linken, sowohl in ihrem Programm, als auch in ihrer politischen Praxis konzentriert sich einerseits akribisch an den klassischen Ressorts und orientiert sich andererseits an dem was die entsprechenden Organisationen und Bewegungen von ihnen erwarten. Das ist nicht grundsätzlich falsch, doch eine hauptsächlich durch Ressorts geprägte Kapitalismuskritik droht ihren Zusammenhang zu verlieren, wenn sie sich bei der Konzentration auf das Konkrete, das Allgemeine verliert, nämlich die Kritik der politischen Ökonomie – was in den Köpfen vieler freilich auf Wirtschaftspolitik zusammenschrumpft.
Die Kritik der politischen Ökonomie, einstmals das Zentrum linker Politik, ist inzwischen auf ein Randthema für Spezialist*innen geschrumpft, wie Alban Werner kürzlich in der Monatszeitung „OXI“ feststellte.[ii] „Außer ihren beiden Fraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht verfügt die Linkspartei nach dem Ausscheiden von Axel Troost nur noch über einen originären Wirtschaftspolitiker im Bundestag, den ehemaligen Hamburger Europaabgeordneten Fabio Di Masi.“[iii] - und das unter 69 Abgeordneten. Die Gründe sind ebenso erklärlich wie ernüchternd: Unter den sechs Politikfeldern, die die LINKE in ihrem Erfurter Programm aufzählt, kommt die Wirtschaftspolitik als eigenständiges Feld nicht vor. Die Kritik der politischen Ökonomie reduziert sich deshalb auf eine Art Querschnittsthema, was notwendigerweise dazu führt, dass sie vernachlässigt wird. Wie aber will man über soziale Gerechtigkeit, gute Arbeit oder Bildungspolitik reden, ohne sich dabei auf ökonomische Zusammenhänge und Prozesse zu beziehen? Bourdieu hat die ökonomische Alphabetisierung einmal sinngemäß als die große Linie der Erneuerung antikapitalistischer Politik bezeichnet – wer aber soll das leisten, wenn sich schon im Bundestag nur drei ausgewiesene Politökonomen unter 69 linken Fachspezialist*innen finden?
Harald Werner 7. März 2018
[i] Thomas Ebermann und Rainer Trampert. Die Zukunft der Grünen (1984)
[ii] Alban Werner, Brot und Butter unter “ferner liefen“ – Eine kurze Soziologie fortschrittlicher Wirtschaftspolitik unter besonderer Berücksichtigung der Linkspartei, 3-18, S.7
[iii] ebenda