Komplexe Gesellschaften, erst recht wenn sie von widersprüchlichen Tendenzen geprägt sind, bedürfen sozialpsychologischer Stabilisatoren, die eine gemeinsame Identität garantieren und trotz dauernden Wandels eine gewisse Beständigkeit sichern. Ob man dies nun als Nationalcharakter oder nationale Identität bezeichnet, in jedem Fall handelt es sich um sozialpsychologische Momente, die von großer Bedeutung für den Zusammenhalt eines Gemeinwesens sind. Gesellschaften geht es in dieser Hinsicht nicht anders als den in ihnen lebenden Subjekten. Ist das reine Überleben gesichert und scheinen die größeren Gefahren gebannt, entwickeln sich zahlreiche Bedürfnisse nach der Sicherung des Bestehenden, der Kontrolle über die wichtigsten Lebensbedingungen und der Stabilisierung des sozialen Miteinanders. Individuen wie Gesellschaften leben nicht vom Brot allein, sondern bedürfen darüber hinaus immaterieller Orientierung und der Verlässlichkeit eines intakten Wertesystems. Dies manifestiert sich in Alltagsritualen, vor allem aber an personellen wie auch an institutionellen Autoritäten. So lange sie beständig und berechenbar sind, haben die Subjekte das Gefühl zu Hause zu sein und ein gewisses Maß an Kontrolle über ihre Lebensbedingungen zu besitzen.
Dieses Kontrollbedürfnis ist übrigens umso größer, je weniger die eigene Exstenz tatsächlich gesichert ist und je größer deshalb die Gefahr des sozialen Abstiegs. Je enger die eigenen Spielräume eines Individuums, umso stärker klammert es sich an das Bestehende und je größer die Abhängigkeit von den herrschenden Eliten, desto größer die Angst, dass sich diese als handlungsunfähig erweisen. In der gegenwärtigen Flüchtlingskrise haben die Menschen wahrscheinlich weniger Angst vor den konkreten Flüchtlingen, als vor der Hilflosigkeit des Staates, dieses Phänomen kompetent in den Griff zu bekommen. Und dies auch deshalb, weil die herrschenden Eliten bereits seit Jahren, spätestens aber seit der Finanz- und Bankenkrise, ihre Handlungsunfähigkeit gegenüber den Globalisierungsfolgen offenbaren mussten. Die unkalkulierbaren Flüchtlingsströme erscheinen nun als der letzte, vor allem aber sinnlich erfahrbare Beweis, für den Machtverlust der Mächtigen.
Das mag auch erklären, weshalb die Angst vor Flüchtlingen oder der angeblichen Islamisierung Deutschlands im Osten deutlich größer und Pegida weitaus stärker als im Westen ist. Die Menschen haben den Zusammenbruch der DDR überstanden, sich einen gewissen Lebensstandard geschaffen, die Bundesrepublik als ihre neue Heimat anerkennt und sehen sich plötzlich vom Verlust dieser immer noch fragilen Errungenschaften bedroht. Nicht anders geht es wahrscheinlich den osteuropäischen Ländern, die es gerade einmal unter das Dach der Europäischen Union geschafft haben. Ihr Fremdenhass ist nicht mehr, als die Angst vor den Ansprüchen der Fremden, die ihre gerade erst gewonnene Sicherheit scheinbar in Frage stellen.
Ob es einem gefällt oder nicht, die Sehnsucht der meisten Menschen nach Sicherheit befriedigt sich in einer geradezu libidinösen Beziehung zu den gesellschaftlichen Autoritäten. Deren Stärke und Stabilität scheint das Gemeinwesen zu einem sicheren Hafen zu machen, in dem man die Stürme der von außen drohenden Gefahren getrost abwettern kann, wie das in der Seefahrt so schön heißt. Die subjektive Identität und das Gefühl der Handlungsfähigkeit der Individuen verdankt sich eben nicht allein ihrer eigenen Stärke, sondern der Macht des eigenen Landes und seiner herrschenden Institutionen. Es handelt sich um eine geliehene Stärke, eine Identifikation mit den Mächtigen und Erfolgreichen, die die eigene Schwäche und Verletzlichkeit vergessen macht.
Im Zeitalter der Globalisierung, mit alle ihren Gefahren und Unwägbarkeiten, konnte sich der deutsche Durchschnittsbürger bislang so fühlen, wie es sich über Generationen anfühlte, wenn man in der Schweiz lebte. Deutschland der Exportweltmeister, ruhender Pol der europäischen Union, regiert von zwei mächtigen Volksparteien und einer Kanzlerin, die vom US-Magazin Forbes und anderen Leitmedien zur mächtigsten Frau der Welt gekürt wurde. Ebenso Identität stiftend die weltweit erfolgreichen Konzerne wie Deutsche Bank, Siemens oder VW und nicht zu letzt der deutsche Fußballweltmeister mit seinem Flaggschiff Bayern-München. Alles gute Identität stiftende Adressen. Doch die Fußballgötter entpuppten sich als Steuersünder und über der Weltmeisterschaft hängt der Verdacht der Bestechlichkeit. Das Gleiche bei Siemens, VW rutscht wegen betrügerischer Manipulation in ein Milliardenloch, während die Deutsche Bank Tausende Arbeitsplätze abbauen und Niederlassungen schließen muss, um trotz der Milliarden an Strafzahlungen überleben zu können. Und was Angela Merkel angeht, die in sich ruhende Mutter der Nation, so sacken ihre Popularitätswerte ebenso ab wie die Umfrageergebnisse der Union.
Wer sich in seinem Bedürfnis nach Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen auf die herrschenden Autoritäten verlässt, erleidet zwangsläufig einen starken Kontrollverlust, wenn sich diese als hilflos oder unzuverlässig erweisen. Es tritt dann in Gesellschaften das gleiche sozialpsychologische Phänomen ein, das man bei Individuen kennt, wenn sie die Kontrolle über ihre persönlichen Lebensbedingungen verlieren: Sie leiden unter Stress, reagieren übersensibel und werden von imaginären Ängsten verfolgt. Angst aber, erst recht wenn sie die gesellschaftliche Stimmung beherrscht, hat den Charakter einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Sie blockiert das rationale Denken und provoziert genau das, wovor man sich fürchtet. Wer von Angst getrieben wird igelt sich ein, verliert die Übersicht und flüchtet in die Vergangenheit. Kontrollverlust mündet deshalb regelmäßig in den Ruf nach staatlicher Kontrolle und der Reduzierung gesellschaftlicher Vielfalt. Und das gilt nicht allein für die „besorgten“ Bürger, die sich bei Pegida oder AFD einfinden, sondern auch für Seehofer & Co, die sich nach rechts flüchten, weil sie, mehr noch als die Kritik von links, die Konkurrenz von Rechts und den Verlust ihrer Hegemonie im rechten Sektor fürchten.
Dagegen steht, und da kann einem die BRD wieder sympathisch werden, dass dieses Deutschland, nach dem Ende des CDU-Staates Adenauerscher Prägung eine emanzipatorische, weltoffene und kritische Kultur hervorgebracht hat, die sich im Engagement der Zehntausenden widerspiegelt, deren Empathie und Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen niemand mehr überrascht, als unsere Nachbarn. Geschichte wiederholt sich eben nicht so einfach. Und wenn doch, dann hoffentlich so wie es Marx einmal beschrieb, nämlich als Farce.
Harald Werner, 5.11.15