Hinter dem Dilemma der Parteien verbergen sich eine ganze Reihe von Ursachen, die viel mit der neoliberalen Modernisierung und dem Nachlassen der gesellschaftlichen Bindungskräfte zu tun haben. Darunter natürlich der Hauptgrund, nämlich die nachlassende Fähigkeit der Politik, den Menschen ihre Situation begreiflich zu machen und Alternativen zum neoliberalen Mainstream aufzuzeigen. Politik wird immer mehr zu einer medial gestalteten Inszenierung, was die Menschen durchaus erkennen, woran sie sich aber gewöhnt haben. denn sich inszenieren und verkaufen zu können, ist wohl das Wichtigste im neoliberalen Daseinskampf. Und natürlich ist die Auflösung einst weitgehend homogener sozialer Milieus ein entscheidender Grund für die nachlassende Bindungskraft der Parteien. Und das vor allem im unteren Teil der Gesellschaft, wo sich das einstmals Gemeinsame in unzählige kulturelle Milieus aufgelöst hat. Diese Bindungskraft können die Parteien nur zurück gewinnen, wenn sie wieder politischer werden. Das scheint paradox zu sein, ist es aber nicht, wenn man Politik als direktes Eingreifen in die gesellschaftliche Entwicklung versteht. Denn eine Chance dazu scheinen nur diejenigen zu haben, die im Licht der Öffentlichkeit stehen, selbst wenn sie nur im Gemeinderat sitzen. Das hat bei gesellschaftskritischen Menschen zugegebener maßen weniger mit Eitelkeit, als mit dem Bedürfnis nach wirklicher Handlungsfähigkeit zu tun. Und dafür nimmt man auch hin, dass sich Mitgliederversammlungen in formalen Regularien oder administrativen Banalitäten erschöpfen. Wer das nicht will, auch keine Mandate anstrebt, wird solche Veranstaltungen nur langweilig finden.
Glaubt man Meinungsumfragen dann interessieren sich allerdings stabil zwischen 15 und 16 Prozent der Bundesbürger „ganz besonders“ für Politik. Das sind etwa 16 Prozent der Bevölkerung über 14 Jahre. Bei Jugendlichen hat das politische Interesse laut Shell-Jugendstudie, nach einem jahrlangen Rückgang, inzwischen sogar wieder zugenommen. Insgesamt sind es also rund 16 Millionen Bundesbürger, die ein „besonderes Interesse“ für Politik zeigen. Auch das Bedürfnis nach politischer Information wird von etwa zwei Drittel der Befragten als hoch bezeichnet. Warum aber zählen bei einem so großen Politikinteresse die Parteien nur noch rund 1,2 Millionen Mitglieder - und das mit stark abnehmender Tendenz? Vermutlich weil Parteien von den meisten Menschen nicht als Informationsquelle oder interessanten Diskussionsraum erfahren werden. Natürlich können Mitgliederbefragungen oder -entscheidungen das Parteileben demokratischer machen, ob der Besuch von Parteiveranstaltungen damit interessanter wird, ist keinesfalls sicher.
Es gibt keine gesellschaftlichen Umwälzungen und erst recht keine Revolutionen ohne starke Bewegungen, die sie auch durchsetzen können. Die marxistischen Klassiker haben daran nie einen Zweifel gelassen und sich trotzdem energisch für die Gründung und Stärkung revolutionärer Parteien eingesetzt, weil sie dauerhafte Orte der Wissensaneignung und klärenden Diskussionen aber auch demokratischer Entscheidungen sind. Linke Parteien sind zwar machtlos ohne Bewegungen aber Bewegungen fehlt so ziemlich alles was linke Parteien stark macht, vor allem Kontinuität und demokratische Willensbildung. Doch was lange in der sozialistischen Linken unumstritten war, änderte sich schlagartig mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und der rücksichtslosen Aufarbeitung der realsozialistischen Parteigeschichte. Nicht nur im Osten, sondern auch in den westeuropäischen Ländern verloren die traditionellen linken Parteien ihren Ruf als Motor gesellschaftlicher Veränderung und ihren Einfluss auf den sich spontan entwickelnden Antikapitalismus. Deshalb entstanden außerhalb der ebenfalls geschwächten Arbeiterbewegung neue, radikale Bewegungsformen, wie etwa attack oder Occupy Wall Street. Aber solche Bewegungen verlieren früher oder später ihre spontane Attraktivität, schrumpfen zu kleinen Zirkeln zusammen oder verwandeln sich wie Greenpeace in ein ebenso professionelles wie kommerzielles Aktionsbüro.
Das bewegungsorientierte Politikmodell setzte sich freilich nicht nur auf Grund der Krise traditioneller Parteien durch. Viel entscheidender war der Strukturwandel der Öffentlichkeit zu einer von den elektronischen Medien dominierten Meinungsbildung. Politik, die nicht in die Medien kommt, findet schlicht weg nicht statt. Aber je spektakulärer und telegener sich politische Akteure in der Öffentlichkeit inszenierten, desto größer ihr Gewicht. Beides zusammengenommen, nämlich die Schwäche der Parteien und die neoliberale Tendenz zur öffentlichen Inszenierung ist wahrscheinlich der Hauptgrund für die Zunahme populistischer Bewegungen. Und das nicht nur am rechten Rand, sonder auch in der Mitte, wie etwa mit Macron und seiner Kampagne en Marche in Frankreich oder mit der Kampagne von Sebastian Kurz in Österreich. Je verkrusteter die politische Landschaft eines Staates, umso größer ist die Chance mit populistischen Kampagnen an die Macht zu kommen. Sie bringen die Leute auf die Straße und an die Wahlurnen, erwecken den Eindruck eines lange erwarteten Aufbruchs und komprimieren Politik auf eine Handvoll populärer, letztlich aber banaler Botschaften.
Ganz nach der Erfolgsmethode von Trump nutzen Bewegungen die sozialen Netzwerke als ein Beteiligung und Diskussion vorgaukelndes Medium, das letztlich wie eine Echokammer wirkt, in der Gleichgesinnte wie in einer Endlosschleife ihre Vorurteile wiederholen. Im Gegensatz zur Meinungs- und Willensbildung einer demokratisch lebendigen Partei, fehlen den Bewegungen nicht nur verbindliche Regeln, sondern auch demokratische Basisstrukturen. An der Basis geht es dann zu, wie nach dem alten Sponti-Spruch: „Alle machen mit, jeder macht was er will, keiner macht was er soll - vorwärts zu allen möglichen Zielen.“ Die Folge sind wechselnde Mehrheiten und Zufallsentscheidungen, die geradezu dazu zwingen, dass die Richtung und die Inhalte der Politik von der Spitze der Bewegung vorgegeben werden.
Dabei stellt sich nun die Frage, was Lafontaine mit seiner Bündnisidee erreichen will und auch wirklich kann. Sahra Wagenknecht hat schon mal veröffentlicht, was ein solches Bündnis braucht, nämlich eine prominente Spitze. Es war nicht anders zu erwarten. Zu erwarten ist aber auch, dass nur Teile der Linkspartei, der SPD und der Grünen ein solches Bündnis tragen werden, während es andere entschieden ablehnen - nicht zuletzt wahrscheinlich wegen seines Erfinders. Die scheinbare Einheit des Bündnisses wird die bereits vorhandenen Unterschiede innerhalb der beteiligten Parteien durch einen weiteren Gegensatz vertiefen, nämlich den zwischen Befürwortern und Gegnern des Lafontaine-Bündnisses. Was die deutsche Linke wirklich braucht ist ein neues Crossover Projekt zwischen den genannten Parteien, um Schnittmengen auszumachen, Vertrauen zu gewinnen und gemeinsam politische Projekte zu entwickeln. Das wird die Unterschiede und Differenzen nicht beseitigen aber sie werden umso kleiner werden, je länger und öffentlich darüber diskutiert wird.
Die unübersehbar bestehende Krise der Parteien wird durch ein Crossover Projekt vielleicht gemindert aber nicht überwunden. Nach wie vor sind Parteiveranstaltungen der Basis nicht Vergnügungssteuerpflichtig, sondern werden von Formalien überlagert, die die politische Diskussion ebenso in den Hintergrund drängen, wie sie Außenstehende abschrecken. Politik macht nicht immer Spaß aber sie darf auch nicht langweilen. Der Debatte über die „große Politik“ muss ebenso mehr Raum gegeben, wie der Wissensaneignung und der Betreuung der neuen Mitglieder, muss die immer noch hohe Fluktuation einzudämmern.
Harald Werner 20. Januar 18