Harald Werner - Alles was links ist
 

Eine Wettbewerbsgemeinschaft kann nicht solidarisch sein 

Die Europäische Union bezeichnet sich gern als Wertegemeinschaft, was man wörtlich nehmen muss. Es geht nämlich vor allem um die Werthaltigkeit ihres ökonomischen Handelns, die Erhöhung des gemeinsamen Wertprodukts und natürlich um eine im internationalen Konkurrenzkampf bestehende Profitrate. Solidarität hat in ihr keinen Platz, sondern ist ausdrücklich untersagt. Ein Länderfinanzausgleich wie in der BRD, wo die schwächeren Länder durch die stärkeren finanziell unterstützt werden, war nie vorgesehen. Wäre es anders, würde Griechenland weder zum Abbau sozialer Leitplanken noch zur Verschleuderung seines Staatsvermögens gezwungen. Dass dieses Prinzip keine Krisen löst, sondern sie vertieft, kann nirgendwo besser als in Athen studiert werden. Bereits die Griechenlandkrise hat dem Nachdenken um eine Neuerfindung der EU neuen Auftrieb gegeben, doch Griechenland ist weit ab und für die anderen Menschen der Union bestenfalls in den Medien präsent. Die Flüchtlingsströme sind dagegen im Alltag erfahrbar und der massenhafte Tod im Mittelmeer, die Erstickten in Schleuserfahrzeugen oder das Abfackeln von Flüchtlingsunterkünften sind für die Menschen wesentlich beunruhigender, als die Statistiken über die griechische Massenarmut. Die Flüchtlingsdramen mobilisieren deshalb sämtliche politischen Lager, vertiefen wie schon lange nicht mehr den Rechts-Links-Gegensatz und führen zu einer hektischen Suche nach Lösungen, die zwischen Abschottung oder Abschreckung und Integration hin und her schwanken.    

Die Festung Europa ist nicht mehr zu halten

Ob Ungarn sich einzäunt, England den Kanaltunnel mit Militär und Tränengas abschottet oder der deutsche Innenminister das Asylrecht verschärfen will, das alles wird nichts nutzen, so lange Millionen ihr Leben aufs Spiel setzen, um der Hölle zerbrochener Staaten, marodierenden Terroristen oder dem unvorstellbaren Elend in den überquellenden Flüchtlingslagern am Rande von Syrien oder dem Irak zu entkommen. Dem Leidensdruck der Flüchtenden werden weder Stacheldrahtzäune noch ein schärferes Asylrecht Stand halten – zumal die Not in den Fluchtländern und den Massenlagern des Nahen Ostens schneller wächst, als der Einfallreichtum der Abschottungspolitik. Aber auch die Willkommenspolitik kommt an ihre Grenzen, so lange sie sich auf zivilgesellschaftliche Solidarität und Humanisierung der Unterkünfte beschränken muss.      

Dass die Fluchtursachen nicht von heute auf morgen  zu beseitigen sind, dürfte unbestritten sein. Die Ausplünderung Afrikas und das dadurch verursachte Elend werden uns eben so lange verfolgen, wie die nicht endenden Kriege in Syrien, Afghanistan und im Irak. Gleiches gilt für die vor allem von Deutschland  vorangetriebne Zerstückelung Jugoslawiens. Allerdings wäre schon viel geholfen, wenn sich hierzulande die Einsicht durchsetzte, dass die Flüchtlingspolitik Probleme zu lösen hat, die die Außenpolitik des Westens verursacht hat. Diese Einsicht einmal vorausgesetzt, wäre die erste Aufgabe der Flüchtlingspolitik, jenes Elend zu bekämpfen, das die Menschen in die Flucht treibt. Das gilt zunächst einmal für die Flüchtlingslager im Nahen Osten, aus denen die meisten flüchten, weil es für sie keine Chance zur Rückkehr in ihre Heimatländer gibt. Es wird Generationen dauern, ehe in Ländern wie Afghanistan, dem Sudan oder Syrien wieder sichere und erträgliche Lebensverhältnisse herrschen werden. 

Das ist kein Flüchtlingsstrom, sondern eine Völkerwanderung

Im Gegensatz zur Wasserflut geht die Flüchtlingsflut nicht zurück, sondern die Menschen bleiben, weil sie keine andere Alternative haben. Große Bevölkerungsteile aus den Fluchtländern flüchten nicht aus aktueller Not, sondern wandern auf Dauer aus. Es wiederholt sich eine europäische Völkerwanderung, wie die Auswanderungswellen aus Irland, Polen oder Deutschland in die Neue Welt. Hinzu kommt, dass ein immer größerer Teil der Vertriebenen zu den eigenen Verwandten flüchtet, die in Europa bereits eine neue Heimat gefunden haben. Und diese Form der Familienzusammenführung  wird zunehmen, je mehr Asylbewerber auf die eine oder andere Weise in Europa Bleiberecht genießen. Deshalb wäre die wichtigste Aufgabe nicht Abschottung, die ohnehin nicht wirkt, wie die Erfahrung lehrt, sondern eine europäische Einwanderungspolitik. Das aber wiederum ist nur möglich, wenn die EU ihren Charakter als Wettbewerbsgemeinschaft aufgibt und Länder wie Polen oder Ungarn nicht nur abstrakte Aufnahmequoten vorschreibt, sondern eine gemeinschaftliche Wirtschafts- und Finanzpolitik entwickelt, die der Aufspaltung der Union in leistungsstarke und leistungsschwache Länder ein Ende setzt.

Der französische Wirtschaftsminister Macron hat dazu in diesen Tagen einen bemerkenswerten, aber keinesfalls neuen Vorschlag gemacht, der in Deutschland auf den größten Widerstand stoßen dürfte, weil er die in Maastricht betonierten Grundmauern der Union in Frage stellt.[1] Für Macron braucht die EU nicht nur einen eigenen Wirtschaftsminister mit entsprechend großem Etat und einer gemeinsamen Steuerpolitik, sondern auch einen Finanzausgleich zwischen den wirtschaftlich starken und den schwachen Ländern der Union. Andernfalls würde die jetzige Generation zum „Totengräber“ eines vereinten Europas, das in der Bevölkerung nach wie vor gewollt, aber in seiner jetzigen Praxis nicht mehr verstanden wird. Eine Vision, die auf den ersten Blick wenig mit der Flüchtlingspolitik zu tun hat. Doch das täuscht. Die Flüchtlingsdramen, die in allen Ländern zunehmenden Konflikte um die Aufnahme von Flüchtlingen und ihre menschenwürdige Unterbringung, sowie die politische Polarisierung zwingen unausweichlich, zu einer Kritik der europäischen Institutionen.

Harald Werner, 31. August 2015      

 

 


[1] „Wollen wir die Totengräber sein?“ Interview der Süddeutschen Zeitung mit Emmanuel Macron, 31. August 2015


[angelegt/ aktualisiert am  31.08.2015]