Harald Werner - Alles was links ist
 

Gorbatschows Blauäugigkeit und der Verrat des Westens

Zunächst sollte man nie vergessen, dass Russland ungeheure Vorleistungen zur Überwindung des Kalten Krieges erbracht hat: Nicht nur durch das Einverständnis zur deutschen Wiedervereinigung, sondern auch durch die Auflösung des Warschauer Vertrages und die Entlassung der Satellitenstaaten aus der Moskauer Herrschaftsstruktur. Gorbatschow schwebte eine neue Weltfriedensordnung vor, die einen Eintritt Russlands in die NATO und eine weltweite Vernichtung der Atomwaffen vorsah. Sein größter Irrtum jedoch war, sich auf die mündliche Zusagen zu verlassen, dass sich die NATO, nach der Wiedervereinigung zwar im ganzen Deutschland aber „keinen Zoll weiter in Richtung Osten bewegen werde.“[i]

 

Dies bestätigt auch ein zunächst geheim gehaltener und 2009 veröffentlichter Aktenvermerk über eine Äußerung Genschers vom 10. Februar 1990 zum sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse: „BM (Bundesminister): Uns sei bewusst, dass die Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands zur NATO komplizierte Fragen aufwerfe. Für uns stehe aber fest: Die NATO werde sich nicht nach Osten ausdehnen.“[ii] Überhaupt mangelt es nicht an Quellen, die diesen Verzicht der NATO auf eine Ostausdehnung belegen. Valentin Falin, ehemaliger Botschafter der UdSSR in der BRD, erinnert sich: „Ich habe Gorbatschow mehrmals darauf aufmerksam gemacht, dass er sich nicht auf mündlichen Versprechen aus Washington verlassen sollte. Das Einzige, was den Amerikanern die Hände bindet, ist ein Dokument, das vom Senat ratifiziert ist.“[iii] Auch Gorbatschow musste spät, und zwar zu spät, erkennen:“ Ich habe auf die Dissidenten gehört. Ich hatte am Ende ihre Stimme im eigenen Kopf. Wir haben als Sowjetunion, als Russen, ich auch persönlich, eines der größten Risiken auf uns genommen, (….) nämlich uns selbst in Frage zu stellen.“[1]  

 

Es war absehbar, dass die Jahrzehnte lange Unterdrückung der sowjetischen Satellitenstaaten in diesen Ländern Spuren hinterlassen hatte, so dass sie sich nichts mehr wünschten, als unter den Schirm des Westens zu schlüpfen – erst in die NATO und dann in die EU. Inzwischen gehört es zur Normalität, dass die NATO in den ehemaligen Satellitenstaaten der UdSSR Zehntausende Soldaten, Panzer und Raketen stationiert hat und immer häufiger in Manövern den Angriff auf Russland probt.

 

Schlimmer noch war, dass Jelzin nach Gorbatschows Entmachtung einem Raubtierkapitalismus die Toren öffnete, der mafiöse Herrschaftsverhältnisse schuf und Russland wie auch viele ehemalige Staaten des Warschauer Vertrages in ein wirtschaftliches, wie auch soziales Chaos trieb. Dass sich auf diesem Boden weder Demokratie, noch Menschenrechte realisieren ließen, hätte der Westen erkennen müssen, konnte er aber nicht, weil sein imperialistisches Gen nur auf eines reagiert, nämlich auf sich öffnende Märkte und vielversprechende Profitquellen. Natürlich konnte man das nicht zugeben, so dass sich die Beutegemeinschaft das Mäntelchen der Demokratisierung und Realisierung westlicher Werte umhängte. Nüchterne Strategen nannten das denn schon mal Regime Change, was im Klartext nichts anderes hieß, als Eingliederung in den kapitalistischen Weltmarkt. „Manchem wird erst jetzt bewusst,“ konnte man sogar in der FAZ lesen, “wie sehr die Konkurrenz Kommunismus, so lange sie bestand, auch den Kapitalismus gebändigt hat.“[iv]

 

Objektive und subjektive Faktoren des Regime Change

Objektiv gesehen handelte es bei der Integration der ehemaligen sozialistischen Länder in den kapitalistischen Weltmarkt um einen ökonomischen Prozess, wie ihn Marx und Engels bereits im Kommunistischen Manifest beschrieben: „Die wohlfeilen Preise (…) sind die schwere Artillerie, mit der (der Kapitalismus) alle chinesischen Mauern in den Grund schießt…“[v] Hinter diesen Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Landnahme im ehemaligen sowjetischen Machtbereich und in Jugoslawien verbargen sich jedoch nicht nur Kapitalinteressen, sondern in breiten Bevölkerungsteilen auch Hoffnungen auf erweiterten Konsum und berufliche Karrieren. Überhaupt scheinen Regimewechsel generell nur dort möglich gewesen zu sein, wo sich die Menschen davon eine Verbesserung ihrer Lebensweise und häufig genug auch ein Mehr an politischer Einflussnahme versprachen. Daran ließ sich gut anknüpfen, so dass Regime Change zu einer neuen US-amerikanischen Strategie wurde, die sich erst im ehemaligen sowjetischen Machtbereich bewährte, dann Jugoslawien ins Visier nahm und schließlich in den Nahe Osten exportiert wurde.

 

Der Krieg als Fortsetzung und Niedergang der Diplomatie

Im März 1999 verlor der Westen seine Geduld mit dem immer noch formal sozialistischen Jugoslawien und nutzte den Konflikt um den Kosovo, um Krieg gegen die jugoslawische Republik zu führen. Damit wurde nicht nur das Völkerecht gebrochen und die UN ausgeschaltet, sondern Deutschland beteiligte sich das erste Mal nach der Niederlage des Faschismus an einem durch das Grundgesetz prinzipiell verbotenen Angriffskrieg. Die deutsche Luftwaffe bombardierte im NATO-Verbund „78 Tage und Nächte Städte und Dörfer in Jugoslawien. Ihre Luftarmada tötete und verstümmelte Tausende Männer, Frauen und Kinder“ Bundeskanzler Schröder rechtfertigte diesen Grundgesetz und Völkerrecht missachtenden Überfall vor dem Bundestag mit den Worten: „Wir können uns unserer Verantwortung nicht entziehen. Das ist der Grund, warum deutsche Soldaten zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg in einem Kampfeinsatz stehen.“[vi] Aus „Verantwortung“ einen Angriffskrieg zu führen, hatte das Völkerrecht bislang nicht vorgesehen, doch schließlich wurde es sogar zur NATO-Doktrin erhoben, mit Waffengewalt Rohstoffen zu sichern und „lebenswichtige Transportwege“ freizuhalten.

Mit dem Kosovo Krieg zerbrach ein vom Völkergerecht geschaffener Damm gegen Angriffskriege und von da an wurde es normal, mit Waffengewalt wie im Irak oder Libyen Regierungen zu stürzen und Diplomaten durch Soldaten zu ersetzen. Der Westen hatte keinen Feind mehr, nutzte aber jede Gelegenheit, um mit militärischen Drohungen und der Unterstützung sezessionistischer Bewegungen seinen Machtbereich zu erweitern.

Die Erneuerung Bedrohungslüge

Der Kalte Krieg wurde vom Westen her mit einer Übermacht der Sowjetunion begründet, was sich bis heute erhalten hat aber noch nie so leicht zu widerlegen war. Schon rein wirtschaftlich gesehen ist Russland überhaupt nicht in der Lage einen Krieg gegen die NATO oder eines ihrer Mitgliedländer zu führen. Das russische Bündnis verfügt über nur 5,9 Prozent der Wirtschaftskraft, die die NATO hinter sich hat. Russland ist zwar immer noch das größte Land der Erde, und in seinem Bündnisbereich leben 187,8 Millionen Menschen, doch die NATO-Mitglieder kommen auf 915,5 Millionen. Russland gibt im Jahr für sein Militär 66 Milliarden Dollar aus, die NATO-Länder aber mehr als das Zehnfache, 890 Milliarden. Die USA haben annähernd 1000 Militärbasen in fast 100 Ländern, Russland verfügt über nur zwei Stützpunkte außerhalb des Territoriums der ehemaligen Sowjetunion.[2]

 

Wenn Freunde sich feind werden

Die von Gorbatschow propagierte neue Weltordnung hat zwar die Systemkonkurrenz beseitigt, dafür aber neue Konkurrenzverhältnisse geschaffen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges standen sich zwei große Hegemonialmächte gegenüber, die eifersüchtig darüber wachten, dass ihre Vasallen keine Sonderwege einschlugen und die Führung ihrer Hegemonialmacht akzeptierten. Doch mit dem Untergang der Sowjetunion büßte nicht nur diese ihre Machtstellung ein, sondern paradoxerweise schwächte das Ende der Systemkonkurrenz auch die Führungsrolle der Vereinigten Staaten. Befreit von dem Zwang, sich der einen oder der anderen Hegemonialmacht zu unterwerfen, entstanden regionale Hegemonialmächte, die selbstbewusst eigene Wege einschlugen oder ihre Interessen abwechselnd einmal mit den USA oder Russland durchzusetzen suchten. Als die USA zusammen mit Großbritannien den Irak-Krieg begannen und später den Regimewechsel in Libyen herbeibombten verweigerte sich die BRD erstmals gegen einen gemeinsamen Waffengang mit den USA. Auf die Spitze getrieben wurde dies, als die Türkei im Syrienkrieg plötzlich die mit den USA kooperierenden Kurden bombardierte und Waffensysteme aus Russland kaufte. Auch hätte es vor Jahren niemand erwartet, dass zwischen den USA und der Europäischen Union ein Wirtschaftskrieg mit gengenseitigen Strafzöllen ausbrechen könnte oder Deutschland gegen den Willen der USA mit Russland eine gemeinsame Ostseepipeline baut.

 

Nicht erwartet hatte man in Europa auch, dass die Gründung der EU, vor allem auch deren Erweiterung und die Einführung des Euro, nicht in friedliche Kooperation mündet, sondern zu neuen Konflikten führt. Und auch hier ist die eigentliche Ursache, dass die neue Weltordnung nicht durch politische Absichten, oder wie häufig beschworen wird, durch gemeinsame Werte zusammengehalten wird, sondern durch ökonomische Interessen. Der eigentliche Kitt des europäischen Bündnisses waren offene Grenzen, ungehinderte Investitionen und eine gemeinsame Währung. Alles Maßnahmen, die von Hoffnungen auf wirtschaftliche Erfolge getragen wurden. Bald wurde es deshalb üblich, dass die schwächeren Länder am ehesten auf ökonomische Unterstützung hoffen konnten, wenn sie politisches Wohlverhalten gegenüber der EU Bürokratie zeigten. Da dies aber nie direkt formuliert wurde und Länder wie Ungarn oder Polen, ohne Sanktionen befürchten zu müssen, Rechtsnormen verletzten und die Pressefreiheit beschnitten, verloren die europäischen Institutionen nach und nach ihre Autorität. Der ernsthafteste Konflikt aber war ökonomischer Natur: Deutschland hatte nicht nur den Vertrag von Maastricht zu seinem eigenen Vorteil gestaltet, sondern profitierte auch von seinen Exportüberschüssen, der Sparpolitik und seinen weit unter dem Durchschnitt liegenden Lohnstückkosten.  So wurde aus der europäischen Freundschaft letztlich ein ganzes Bündel gegenseitiger Schuldvorwürfe und unterschiedlicher Feindschaften.  

Harald Werner 20. Juni 2018   

  

  

  

 

 

 


[1] Gorbatschow im Gespräch mit Richard Sennet/ Freitag Nr.46/2003 S.3

[2] Wolfgang Gehrcke, Christiane Reymann, Deutschland und Russland – Wie weiter? Berlin 2017

 



[i] Wolfgang Gehrcke, Christiane Reymann, Deutschland und Russland – Wie weiter? Berlin 2017

[ii] https://de.wikipedia.org/wiki/NATO-Osterweiterung

[iii] Gehrcke – Reymann a.o.O. ´S.45

[iv] Zitiert nach Daniela Dahn, Wehe dem Sieger, Hamburg 2009, S.27

[v] MEW Band 4.

[vi] ebenda S.51


[angelegt/ aktualisiert am  20.06.2018]