Mit dem Wahlergebnis in Mecklenburg Vorpommern wird immer deutlicher, dass die Flüchtlingsfrage weniger die Ursache der AfD-Erfolge ist, als ein willkommener Anlass – ein Katalysator der unterschiedlichsten Unzufriedenheiten. Nirgendwo wird dies deutlicher als in Mecklenburg Vorpommern. Dass man sich in Mecklenburg Vorpommern von Flüchtlingen bedroht sieht, löst bei genauer Betrachtung der Lage Kopfschütteln aus. Denn während in Schwerin auf 1.000 Einwohner nur 0,69 Flüchtlinge kommen, sind es in Berlin 4,5. Geradezu paradox scheint es, dass die AfD bei einem so geringen Flüchtlingsanteil wie in Mecklenburg Vorpommern auf 20,8 Prozent kommt, während ihr in Berlin bei einem dreimal so hohen Flüchtlingsanteil nur 10 Prozent vorhergesagt werden. Und anders als in Berlin muss in Mecklenburg Vorpommern auch niemand fürchten, dass durch die Flüchtlinge der Wohnraum knapp wird, weil es in Schwerin zum Beispiel mehr freistehende kommunale Wohnungen als Asylbewerber gibt. Wenn man sich also in Mecklenburg Vorpommern Sorgen um die Flüchtlingsströme macht, so hat das nichts mit der eigenen Erfahrung zu tun.
Auch was die politische Unzufriedenheit angeht, so betrifft sie vielleicht die Bundes-, nicht aber die Landespolitik. Nach einer Vorwahl-Umfrage der ARD gaben 58 Prozent der Befragten in Mecklenburg Vorpommern an, dass sie mit der Arbeit der Landesregierung zufrieden sind, 67 Prozent fühlen sich als „Gewinner der gesellschaftlichen Entwicklung“ und sogar 80 Prozent bezeichnen ihre wirtschaftliche Situation als gut.[1] Der Jahresvergleich zeigt, dass man sich in Mecklenburg Vorpommern noch nie so zufrieden fühlte, wie 2016. Nur in Baden Würtemberg und Bayern wird der Landespolitik noch mehr Anerkennung als in Mecklenburg Vorpommern gezollt. Alles deutet also darauf hin, dass weder die Schweriner Flüchtlingspolitik noch die Arbeit der Landesregierung das Wahlergebnis erklären können. Was aber dann?
Die BRD ist im Vergleich zu den anderen EU-Ländern geradezu ein Hort der Stabilität: Die Arbeitslosenzahlen sinken, es gibt mehr Ausbildungsplätze als Bewerber, die Preise sind stabil und Schäuble legt mehr Milliarden auf die hohe Kante, als der Bund für die Flüchtlinge locker macht. Sicher, die soziale Spaltung nimmt zu, doch das ist eine statistische Größe, die offenbar nicht mit dem Lebensgefühl der Mehrheitsgesellschaft übereinstimmt. Denn bei ihnen dominiert mit 73 Prozent die Angst vor Terror und Kriegsgefahr, gefolgt von der Sorge, dass die Herrschenden die Entwicklung nicht mehr im Griff haben und die Krise der EU in ein ähnliches wirtschaftliches Desaster führen könnte, wie die noch gut in Erinnerung gebliebene Finanzkrise.[2]
Auffallend an allen Wahlen, die die AfD in jüngster Zeit gewonnen hat, ist auch weniger die Bedeutung der Flüchtlingsfrage, als die Enttäuschung über die traditionellen Parteien. Der Wahlzettel ist zum Denkzettel geworden und die AfD scheint weniger eine Partei der rechten Wähler, als der Nicht- und Wechselwähler zu sein. Wobei es eine nicht geringe Rolle spielt, dass vor allem bei den Jüngeren, immer weniger zwischen links und rechts unterschieden wird. Es ist auch fraglich, ob es den Menschen bei der Flüchtlingsfrage wirklich um die Migration geht, sondern mehr noch um die Hilflosigkeit der Politik gegenüber den Fluchtbewegungen und ihren Ursachen. Denn hinter der Unbeherrschbarkeit der Flüchtlingsströme steht die Angst vor der Hilflosigkeit der Herrschenden gegenüber den sie auslösenden Kriegen, dem Terror der immer näher zu kommen scheint und der eigenen Hilflosigkeit, die aus den Fugen geratene neue Weltordnung noch verstehen zu können. Zuweilen kann man sich nichts des Eindrucks erwehren, als fürchteten die auf diese Weise verunsicherten Menschen, dass mit den Flüchtlingen ein unkalkulierbarer Virus eingeschleppt würde. Es ist etwas Unbegreifbares, das sich dann leicht auf den Islam fokussieren lässt.
Wie zu erwarten hat das Schweriner Debakel in der Partei zunächst die Debatte über ihre politischen Schwerpunkte und ihre Rolle als Oppositionspartei belebt. Die LINKE muss sich fragen, so etwa Sahra Wagenknecht am 6. September im Berliner Tagesspiegel: „Warum wir werden wir nicht mehr als die Partei angesehen, die denen die Stimme gibt, die protestieren und eine sozialere Politik einfordern?“ Vermutlich wird es nicht lange dauern, bis links von Sahra die bekannte Antwort kommt, es habe an „harter Kritik an den bestehenden Verhältnissen und eine Vision einer völlig neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ gefehlt.[3] Abgesehen davon, dass die radikale Linke dies bereits seit Jahrzehnten feststellt, und das auch zu Zeiten bester Wahlergebnisse, hat die Partei kein programmatisches Problem, sondern ein sehr viel dramatischeres: Ihr geht die Basis verloren, die ihre Programmatik in Alltagssprache übersetzen könnte. Entweder sie reibt sich im kaum radikalisierbaren Geschäft der Kommunal- oder Landespolitik auf oder sie ist überhaupt nicht mehr vorhanden. Die Mitgliederverluste der letzten Jahre sind insgesamt bedrohlich, auch wenn es in den Großstädten nicht so sehr auffällt wie auf dem Lande. Doch in der Fläche ist die Entwicklung dramatisch, im Osten zuweilen katastrophal. Vor allem deshalb weil die Partei umso weniger junge Mitglieder gewinnt, je älter sie wird. Bevor man beginnt die Programmatik, die Wahlaussagen oder gar die Plakate zu kritisieren, sollte man deshalb eine Debatte darüber beginnen, wie die Basis der Partei jünger, lebendiger und vor allem auch intellektueller werden könnte.
Harald Werner 6. September 2016
[2] https://www.ruv.de/presse/aengste-der-deutschen/presseinformation-aengste-der-deutschen-2016
[3] So schon Thies Gleiss am 02. September in einem Brief an den Parteivorstand