Für Schröders neue Sozialdemokratie ging es bei der Agenda 2010 von Anfang an nicht um „Reformen am Arbeitsmarkt“, mit denen neue Arbeitsplätze geschaffen werden sollten, sondern um die Konkurrenzfähigkeit der BRD auf den für sie relevanten Märkten zu steigern. Dazu verfolgte die Agenda zwei sich ergänzende Ziele: Erstens sollten die Lohnstückkosten gesenkt werden und zweitens die Steuern auf Gewinn und Vermögen so weit schrumpfen, dass die Investitionstätigkeit des Kapitals deutlich steigt. Das erste Ziel wurde erreicht, so dass Deutschland zum überlegenen Exportweltmeister wurde aber das zweite Ziel wurde verfehlt, weil sich die zusätzlichen Gewinne kaum in Investitionen, sondern in Finanzspekulationen verwandelten.
Im Prinzip war Deutschland schon damals wegen seiner industriellen Spitzenstellung innerhalb der EU zu einer solchen Strategie nicht gezwungen, aber es ging auch nicht um Europa, sondern um eine Vormachtstellung auf dem Weltmarkt. Das hat die Agenda 2010 zweifellos erreicht, aber die so genannte Innovation, auf die Merkel jetzt Schulz festnageln möchte, hat das Gegenteil von dem gebracht, was dem sozialdemokratischen Wahlvolk versprochen wurde. Was „schamhaft verschwiegen wird: Die Gesamtarbeitszeit hat keineswegs zugenommen, sondern liegt heute noch unter dem Stand von 1990.“[1] Es gibt also nicht mehr Beschäftigung, sondern mehr Beschäftigungsverhältnisse. Und das schlägt sich natürlich in den Arbeitseinkommen nieder. Rund 40 Prozent der Bevölkerung hat im vergangenen Vierteljahrhundert keinen Wohlstandsgewinn verzeichnen können aber sieben Millionen Menschen, rund ein Fünftel der abhängig Beschäftigten, sind in der Armutsfalle gelandet. Auch Peter Bofinger, Mitglied des so genannten „Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“, kommt zu dem Schluss, dass durch die Agenda die Arbeitslosigkeit letztlich nicht verringert wurde.[2] Sie wurde lediglich auf mehr Schultern verteilt. Aber auch dieser Effekt ist letztlich fragwürdig, weil die Langzeitarbeitslosigkeit heute nicht geringer als 2001 ist. Was die Agenda aber tatsächlich bewirkt hat, ist eine enorme Steigerung der Vermögenseinkommen auf der einen und die Zunahme der Armut auf der anderen Seite.
Schulz wäre in Sachen sozialer Gerechtigkeit glaubwürdiger, wenn er vier Zusagen machen würde. Erstens die Bezugsdauer und die Anwartschaften für das Arbeitslosengeld 1 auf den Stand vor der Agenda 2010 zurückzubringen. Zweitens Hartz IV an den früheren Standard der Arbeitslosenhilfe anzupassen und drittens ein wirklich armutsfeste Rente zu präsentieren. Und natürlich müssten die Steuergeschenke schrittweise rückgängig gemacht werden, die unter Schröder den Bestverdienenden ausgereicht wurden.
Es ist natürlich ein geschickter Schachzug der Bundeskanzlerin, von Schulz Innovationen zu fordern. Denn Innovation heißt heute vor allem Digitalisierung, nicht nur von Industrie, Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung, sondern sämtlicher gesellschaftlichen Bereiche. Obwohl man durchaus daran zweifeln darf, ob die Gesellschaft sich selbst steuernde Autos braucht oder Kühlschränke, die per Internet automatisch Nachschub bestellen, kann man sich Zweifel an der so genannten Digitalisierung kaum leisten, wenn man nicht als ewig Gestriger dastehen möchte. Doch während Politik und Wirtschaft bis heute auf die Wunder der digitalisierten Wirtschaft und Gesellschaft hoffen, breitet sich selbst unter konservativen Ökonomen Skepsis aus, weil die erhofften Effekte ausbleiben. Das wirtschaftliche Wachstum ist so niedrig wie seit Jahrzehnten nicht mehr und selbst Zinsen im Nollkommabereich sind unfähig, die Investitionstätigkeit im produzierenden Gewerbe voranzubringen. Seit der großen Finanzkrise steigt die wirtschaftliche Leistung der BRD nur noch im Nullkomma-Bereich. Die Arbeitsproduktivität, also die Leistung je Arbeitsstunde eines Erwerbstätigen, ist seit der Finanzkrise nur um weniger als ein Prozentpunkt gestiegen – und das trotz rasanter Digitalisierung. Plötzlich entdecken sogar neoliberale Ökonomen, wie etwa Hans Werner Sinn, dass die Wirtschaft nicht durch die Verbesserung des Angebots, vor allem der menschlichen Arbeitskraft, sondern allein durch kauffähige Nachfrage vorangetrieben wird. Die aber muss zwangsweise einbrechen, wenn der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen stagniert oder wie in vielen Ländern sogar sinkt und gleichzeitig die öffentliche Nachfrage durch die Sparpolitik eingeschrumpft wird.
Im ökonomischen Diskurs taucht plötzlich ein längst vergessenes Gespenst auf, nämlich der von Marx entdeckte „tendenzielle Fall der Profitrate“. Wenn nämlich allein die Lohnarbeit Mehrwert schafft, weil sie nicht nur ihren eigenen Lohn, sondern auch den Profit des Kapitals erwirtschaftet, dann muss die Profitrate umso stärker fallen, je geringer der Anteil der Lohnkosten am insgesamt eingesetzten Kapital. Weil aber die Digitalisierung permanent den Anteil der „toten Maschinerie“ erhöht, während der Anteil der „lebendigen Arbeit“ sinkt, wird der Kapitalismus durch die digitale Technik nicht gerettet, sondern vor neue Verwertungsprobleme gestellt.
Nun könnte man fragen, warum Politik und Ökonomie, angesichts von Wachstumsschwäche und stagnierender Profitrate, nicht nach Ansätzen alternativer Wirtschaftspolitik suchen. Die Frage ist ebenso berechtigt wie realitätsfremd. Je geringer nämlich die Profitrate, desto interessante wird der so genannte Extraprofit. Ein Profit, der vor allem denen winkt, die mit einem völlig neuen oder konkurrenzlosen Produkt auf den Markt kommen, beziehungsweise eine neue, arbeitssparende Fertigungstechnik beherrschen. Je schärfer der Konkurrenzkampf und je geringer die Gewinnspannen, desto entscheidender wird die Erzielung eines Extraprofits. Doch wo die traditionelle Industrie früher Jahre brauchte, um einen solchen Vorsprung zu erlangen, hat die Digitalisierung diesen Prozess ungeheuer beschleunigt. Neue digitale Innovationen hervorzubringen, ist deshalb für Konzerne und nationale Standorte zur Hauptstrategie auf dem globalen Markt geworden.
Harald Werner 11. April 2017
[1] Ursula Engelen Kefer, „Martin Schulz: Die Entschröderung der SPD?“, Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/17, S.10
[2] Peter Bofinger, „Das Märchen von der Agenda 2010“, Der Tagesspiegel 2. April 2017, S.5