Seien wir ehrlich, die meisten von uns haben lange geglaubt, dass die Einheit Europas den Frieden sichert und Deutschland als ehemaligen Aggressor zum guten Nachbarn macht. Doch der angeblich gute Nachbar hat - angefangen mit dem Diktat von Maastricht, der Konstruktion der EZB, dem Fiskalpakt und der Durchsetzung der Austeritätspolitik - aus Europa ein gnadenloses, neoliberales Projekt gemacht.
Der Euro, weil sich sein Wert an der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit des Euro-Raums orientiert, hat Deutschland zum Globalplayer und Exportweltmeister aufsteigen lassen. Mit der guten alten DM, die sich ausschließlich an der Wirtschaftsleistung Deutschlands orientieren musste, wäre dies alles nicht möglich gewesen. Und was für ein Hohn, wenn dieses Deutschland die „lieben Nachbarn“ zur Steigerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit mahnt. Ist doch deren Rückstand gegenüber Deutschland die wichtigste Voraussetzung des deutschen Exportüberschusses.
Kommen wir zu den Schulden unserer lieben Nachbarn. Wer anderes hat die in ihrer Wettbewerbsfähigkeit hinterher hinkenden Südländer denn mit Krediten überschwemmt, die diese aufnahmen, um endlich „aus dem Knick“ zu kommen? In erster Linie Deutschland, denn kein anderes Land konnte diesen Kreditbedarf besser bedienen, als Deutschland mit seinem überschüssigen, als Exportweltmeister eingesammelten Finanzkapital. Wenn sich das Finanzkapital der Euro-Zone in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt hat, obwohl das Wachstum kaum wieder den Stand vor der Finanzkrise erreichen konnte, so folgt daraus zwangsläufig eine enorme Steigerung der Schulden – was zunächst die Banken und nach deren Rettung die Staatshaushalte betraf.[1] Wobei man auch mal daran erinnern darf, dass Schulden nicht nur Zinsen kosten, sondern den Gläubigern auch welche einbringen.
Jede Million Zinsen, die Griechenland zahlen muss und dafür neue Kredite aufnimmt, schlägt sich als Einnahme vor allem in Schäubles Haushalt nieder. Damit nicht genug, verdankt sich auch seine „schwarze Null“ im Bundeshaushalt der Verschuldung anderer Euro-Länder. Während niemand mehr wegen ihres Ausfallrisikos griechische Staatsanleihen kauf will, kann Schäuble welche zu einem Zinssatz von weniger als einem Prozent erwerben. Gibt es einen besseren Deal, als Schulden für 0,7 Prozent zu machen und damit entweder eigene teure Kredite umzuschulden oder sich an den Anleihen für Griechenland zu beteiligen, für die Athen über 6 Prozent zahlen muss?
Eigentlich weiß jeder, dass nicht nur Griechenland, sondern auch andere überschuldete Südländer ihre Schulden niemals werden zurückzahlen können. Deshalb dreht sich die gesamte Politik der Gläubigerstaaten um die Frage, wie man das eigene Geld retten kann. Wäre die EU eine Solidargemeinschaft, ginge es dagegen um die Frage, wie man den Schuldnerländern zu neuem Wachstum verhelfen und sie von den Schulden entlasten kann. Dies geschieht aber nicht nur aus mangelndem Willen nicht, sondern weil das ganze Reglement der EU dies ausschließt. Die EU ist nämlich nicht auf eine Solidargemeinschaft angelegt, sondern auf Vertiefung der Konkurrenz. Einmal im Hinblick auf den Weltmarkt und zum anderen auch nach innen. Denn ganz nach dem Motto „The winner takes it all“ (Der Sieger bekommt alles) profitiert vor allem Deutschland von dieser Wettbewerbsunion. Also ist nicht allein Schäuble der Schuldige, sondern all diejenigen, die diese auf das gegenseitige Herunterkonkurrieren angelegte Union geschaffen haben.
Es wirft sich die Frage auf, ob unter den geschilderten Bedingungen nicht nur Griechenland, sondern auch die EU am Ende ist und auf ein Kerneuropa unter deutscher Hegemonie zusammenschrumpft. Denn erstens ist der Grexit immer noch nicht ausgeschlossen, und wenn er denn stattfindet, werden unweigerlich weitere Länder folgen, wenn die Austeritätspolitik zwar mehr Elend bringt aber trotzdem die Schulden nicht mehr bedient werden können. Die Alternative könnte ein radikal anderes Europa sein, doch einige Linke zweifeln bereits an dieser Möglichkeit. So schreibt etwa Peter Wahl: „Die EU ist in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit nicht reformierbar. Die Verträge und das institutionelle Arrangement haben einen neoliberalen Konstitutionalismus und Herrschaftsstrukturen etabliert, die eine strukturelle Unmöglichkeit emanzipatorischer Veränderung zur Folge hat, zumindest wenn man sich an die Regeln hält. Die Hoffnung diese EU sozial und demokratisch reformieren zu können sollte daher ad acta gelegt werden, es sei denn jemand ist so naiv zu glauben, die Verträge mit linken Mehrheiten gleichzeitig in 28 Mitgliedsländern mit der erforderlichen Einstimmigkeit ändern zu können.“[2]
Die Situation macht freilich auch ein anderes Szenario möglich. Wenn Griechenland den Grexit endgültig abgewendet und das Schlimmste überwunden hat, könnte sein Widerstand Schule machen. Dabei spielt es keine nebensächliche Rolle, dass sich Frankreich und Italien zunehmend der Austeritätspolitik widersetzen und sich zwischen ihnen und der deutschen Politik tiefe Widersprüche zeigen. Dem ökonomischen Sieg Schäubles könnte eine politische Niederlage folgen und den europäischen Linkskräften neuen Auftrieb geben. Ob das auch für Deutschland gilt, darf angesichts der Rolle, die gegenwärtig die SPD und vor allem ihr Vorsitzender spielen, allerdings bezweifelt werden.
Harald Werner 15.07.15
[1] EuroMemo 2015, S.21ff
[2] Peter Wahl, WEED - Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung, „Griechenland: Aus der Niederlage lernen - Plan B vorbereiten“, 13. Juli 2015