Der Niedergang der SPD hat nicht, wie viele meinen, mit den Großen Koalitionen begonnen, sondern bereits mit Schröders neuer Sozialdemokratie, mit den so genannten Reformen am Arbeitsmarkt, mit Hartz IV sowie den einmalig großzügigen Steuergeschenken für Unternehmen und Besserverdienende. Deshalb ist es pure Selbsttäuschung, wenn die Groko-Gegner den sozialdemokratischen Bedeutungsverlust allein den zwei Großen Koalitionen unter Angela Merkel zuschreiben wollen. Doch schon im Wahlkampf brachten Schulz & Co nicht die Kraft zu einer selbstkritischen Umorientierung auf, ganz zu schweigen vom mangelnden Mut, die Verteilungsfrage in den Mittelpunkt des Wahlkampfes zu stellen. Keine Rede von den explodierenden Gewinnen der Unternehmen und Besserverdienenden, der zunehmenden Verarmung breiter Bevölkerungsschichten und nichts zu hören von der einmal versprochenen Einführung einer Reichensteuer oder der Wiedererhebung der Vermögenssteuer. Wer den inhaltsschwachen SPD-Wahlkampf aufmerksam verfolgte, darf sich über die Koalitionsverhandlungen eigentlich nicht mehr wundern. Genau genommen gingen Schulz & Co mit nur noch zwei Alleinstellungsmerkmalen in die Verhandlungen, nämlich der Bürgerversicherung und der Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen. Am Ende verabschiedeten sich Schulz & Co nicht nur von der Bürgerversicherung, es gelang ihnen auch nicht, die durch die Agenda 2010 eingeführte grundlose Verlängerung befristeter abzuschaffen. Nimmt man die gesamte Entwicklung der SPD nach Schröder, dann wird der jetzt ausgehandelte Koalitionsvertrag nicht als Richtungsänderung, sondern als Kapitulationsurkunde in die Geschichte eingehen.
Dass Schulz mit 100 Prozent zum Parteivorsitzenden gewählt wurde, war alles andere als ein guter Ausgangspunkt – es war eine kaum abzutragende Hypothek. Wer so in den Wahlkampf einsteigt, kann nur verlieren, weil die Messlatte viel zu hoch lag. Folglich brachen bald schon die Umfragewerte des Kandidaten ein, zumal Schulz sich unfähig zeigte, den hohen Anspruch auf einen politischen Wechsel mit konkreten Inhalten zu unterfüttern. Und während eine Landtagswahl nach der anderen verloren ging, die Umfragewerte auf einen historischen Tiefststand fielen, wirkte Schulz Credo „ich will Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden“, nur noch komisch. So häufig er auch die soziale Frage bemühte, so wenig konnte er dafür faszinierende Projekte anbieten. Als taktisch katastrophal sollte sich dann später auch herausstellen, dass der Kandidat, ohne gefragt zu werden, stets rigoros dem Eintritt in eine Große Koalition eine Absage erteilte. Es wäre zweifellos klüger gewesen, die Projekte vorzustellen, die den Gegensatz von Union und SPD schärfer hervorheben, als ohne Not zu geloben, er würde nie Minister unter Angela Merkel werden. Dass der Parteitag dann doch noch mit äußerst knapper Mehrheit die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen billigte, konnte niemand mehr als Kampfansage an die Union, sondern nur noch als Angst vor der Oppositionsrolle begreifen.
Und diese Angst ist nicht unbegründet. Denn während in der Union mit Dobrindt und Spahn eine neue Generation an die Futterkrippe drängt, fehlt es der SPD schlicht an ebenso erfahrenem wie bereits prominentem Nachwuchs. Diesen Mangel konnte auch die Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles nicht kompensieren, als sie den letzten Parteitag mit dem „ätschi bätschi“ aus der Kindergartensprache aufzupeppen suchte. Man darf annehmen, dass sich darüber nur die Union amüsiert hat. Aber nicht nur deshalb ist es eine trügerische Hoffnung, dass die Sozialdemokratie auf den Oppositionsbänken zu neuer Kraft finden könnte. Sie wäre dann zwar die größte unter den Oppositionsparteien, doch nicht mehr die einzige mit Machtperspektive. Über Jahrzehnte ging es im deutschen Bundestag vor allem darum ob die CDU oder die SPD zur Kanzlerpartei werden. Das sieht gänzlich anders aus, seit gänzlich neue Farbkoalitionen denkbar sind und sich jede der Oppositionsparteien als mögliche Mehrheitsbeschaffer einer wie auch immer zusammengesetzten Regierung profilieren müssen.
Schaut man sich die europäische Parteienlandschaft an, dann ist sie überwiegend durch den Bedeutungsverlust der klassischen Links- und Rechtsparteien auf der einen Seite und der Zunahme populistischer Parteien oder Bewegungen auf der anderen geprägt. Das einst von Dahrendorf als sozialdemokratisch bezeichnete Jahrhundert gehört lange schon zur Vergangenheit. Woran übrigens nicht nur die Sozialdemokratie Schuld trägt, die einmal in der Lage war, das Soziale zu einem Zentrum der Politik zu machen, sondern der generelle Niedergang der Mitgliederparteien. Schuld daran ist einerseits die Erosion der sozialen Milieus, auf die sich die jeweiligen Parteien stützen konnten und damit andererseits verbunden, das Austrocknen der demokratischen Willensbildung. Die BRD scheint, mit zwei Parteien die noch Hundertausende von Mitgliedern zählen, davon weit entfernt. Skeptisch macht nur, dass sich die Parteiendbindung bei der Wahlentscheidung lockert und die Willensbildung mehr und mehr in den Apparaten und nicht an der Basis stattfindet. Zumindest in der SPD deutet sich in dieser Hinsicht durch die Groko-Verhandlungen geradezu ein Paradigmenwechsel an. Das mehrstufige Verfahren, nach der Entscheidung des Parteivorstandes, zunächst den Parteitag und am Ende die gesamte Mitgliedschaft entscheiden zu lassen, hat der SPD nicht nur mehr öffentliche Aufmerksamkeit beschert, sondern auch Zehntausende neuer Mitglieder gebracht. Wenn das Verfahren Schule macht, steht nicht weniger als eine Erneuerung der Parteiendemokratie an.
Harald Werner, 7. Februar 2018