Dass Riesencomputer in Millisekunden minimale Wertschwankungen nutzen, um Profite abzuschöpfen, ist inzwischen selbst für diejenigen kein Geheimnis mehr, die von der Art dieser Geschäfte, wie etwa den ominösen Leerverkäufen, nichts verstehen. Sehr viel weniger Beachtung findet dagegen die Digitalisierung des Konsums, weil sie als scheinbarer Fortschritt daherkommt und als solcher unseren Alltag zu verschönern scheint. Reden wir zunächst einmal vom geliebten Handy. Vom Kidergarten bis zum Sterbebett gibt es keinen Ort, den es inzwischen verschont hat. Die jetzt heranwachsende Generation wird sich keinen gesellschaftlichen Zustand vorstellen können, in dem die Menschen ohne Handy auskommen mussten. Vergessen wir den Siegeszug der Elektrizität oder des Autos, die Jahrzehnte oder gar halbe Jahrhunderte brauchten, um das gesellschaftliche Leben zu verändern. Es ist gerade mal 20 Jahre her, dass IBM das erste klobige Smartphone auf den Markt brachte. In dieser kurzen Zeit verwandelte es sich weltweit zum dominierenden Austauschmittel für Nachrichten, Musik und Videos, lernte fotografieren oder gar virtuelle Welten zu schaffen. Ach ja, und man kann mit ihm auch telefonieren. Inzwischen gibt es weltweit 2,1 Milliarden Smartphone-Anschlüsse – seit 2012 fast eine Verdoppelung.[1]
Doch hat dies die Menschheit bereichert? Gewiss, in New Yorker Lofts lässt sich in Echtzeit verfolgen, wie in Syrien gemordet wird und selbst in afrikanischen Strohhütten, wo es weder Wasser, noch ausreichend zu essen gibt, lässt sich das Angebot der Pariser Edelrestaurants verfolgen. Lässt sich eigentlich noch über Flüchtlingsströme reden, ohne an die globale Nutzung des Smartphone zu denken. Die abgehängten, vertriebenen und gequälten Massen dieser Welt – und sie sind die übergroße Mehrheit – sehen immer mehr was diese Welt eigentlich zu bieten hat, aber sie bekommen immer weniger davon ab. Nach einem Bericht der UNO leben 1,2 Mlliarden Menschen in extremer Armut[2], dagegen besitzt nach einer Studie von Oxfam das reichste Prozent der Weltbevölkerung mehr als die restlichen 99 Prozent zusammen.[3] Selbstredend, dass diese extremen Widersprüche weder die Digitalisierung noch das Smartphone verursacht hat. Das Beispiel verdeutlicht nur, wie wenig der kapitalistisch hervorgebrachte und auch genutzte technische Fortschritt zu menschlichem Fortschritt führt. Die Menschheit will und braucht technischen Fortschritt, was dann aber eintritt, ist häufig das Gegenteil von dem, was sie gebraucht hätte.
Eines der großen Ärgernisse des Kapitalismus war stets das Erlahmen der Nachfrage. Denn wie soll sich das Kapital vermehren, wenn der Konsument nicht mehr kauft, als produziert werden kann. Sein klassisches Gegenmittel war der Verschleiß – entweder der funktionelle oder der moralische. Ein Produkt musste entweder kaputt gehen oder durch die Produktion modernerer Güter so alt erscheinen, dass man unbedingt ein neues brauchte. Daran hat sich bis heute nichts geändert, aber die Digitalisierung hat sowohl den funktionellen, als auch den moralischen Verschleiß ungeheuer beschleunigt. Und fast noch bedeutender ist, die fortschreitende Digitalisierung ersetzt mehr Arbeitskraft, als früher durch Maschinerie ersetzt werden konnte. Das allein deshalb, weil der digitalisierte Kapitalismus geistige Arbeit ersetzen kann – und das zu deutlich niedrigen Kosten, als sie durch mechanische Konstruktionen zu ersetzen war. Wobei man zwischen drei verschiedenen Etappen oder Strategien unterscheiden muss.
Die erste Etappe begann mit dem PC, der ganze Berufe beseitigte oder gegen Angelernte austauschte und die komplizierten Tätigkeiten dem Computer überließ. Millionen Arbeitsplätze für Schreibkräfte, Buchhalterinnen oder Setzer und Drucker wurden in nicht mehr als einem Jahrzehnt vernichtet. Das Gleiche in der öffentlichen Verwaltung, dem Gesundheitswesen und in den Büros der Banken und Versicherungen.
Die zweite Etappe revolutionierte durch die Ausweitung und Professionalisierung des Internets den Handel und Vertrieb, zersetzte aber auch klassische Dienstleistungen, indem Kunden oder Bürger gezwungen wurden, ihre Wünsche Internetportalen mitzuteilen oder sogar der Gegenseite Verwaltungsarbeit abzunehmen. Wie schon in der ersten Etappe wurde qualifizierte und meistens ordentlich bezahlte Arbeit durch prekäre Beschäftigung ersetzt, was sich dann die Politik als Arbeitsplatzgewinn ausgeben konnte.
Beide Etappen sind noch lange nicht abgeschlossen, weil die digitale Rationalisierung menschlicher Arbeit einerseits immer noch in den Kinderschuhen steckt und die Professionalisierung der verwendeten Software praktische keine Grenzen hat. Denn wo sich frühere Rationalisierungsschübe auf große Forschungsprojekte und technische Großeinrichtungen stützen mussten, sitzen die Erfinder von heute vor ihrem privaten Labtop und produzieren eine Geschäftsidee nach der anderen. Alles im Bewusstsein, dass auch Bill Gates so angefangen hat und ermuntert durch eine Politik, die Scheinselbständigkeit zum Start up veredelte.
Die Dritte Etappe verdankt sich genau dieser Entwicklung, nämlich einer schier unerschöpflichen Softwareproduktion, verteilt auf den ganzen Globus, und in heftiger gegenseitiger Konkurrenz die Preise drückend. Keine Frage, es handelt sich um eine technische Revolution, aber was wird da eigentlich revolutioniert? Und hier betritt dann der digitalisierte Kapitalismus die Bühne. Der coole, libertäre Software-Riese Arm in Arm mit dem flexiblen, innovativen Finanzspekulanten.
Die Übersättigung der privaten Haushalte mit allerlei Möbeln und Geräten, zumindest in den wohlhabenden Ländern des Nordens, zwang das Kapital schon in den 1920er Jahren alternative Märkte für immaterielle Produkte zu erschließen. Es gelang ihm mit Schallplatte, Radio und Film einen Produktionszweig aufzubauen, der bald eben so hohe Renditen abwarf wie das produktive Kapital. Doch hinter dem an der Börse gehandelten Wert dieser Konzerne lauerte der Abgrund. Erfüllten sich die Erwartungen der Investoren und die immaterielle Produktion fand reißenden Absatz, verwandelten sie sich das Produkt eine Art „Gelddruckmacheinen“, floppte es stand der Pleitegeier vor der Tür. Natürlich lauert auch hinter jeder materiellen Produktion der Verlust, weshalb Marx die sich hauptsächlich auf Erwartungen gründenden Werte als „fiktives Kapital“ bezeichnete.
Doch selbst wenn immaterielle Produktion und fiktives Kapital keine neue Erscheinung sind, nehmen sie sich gegenüber den Revolutionen des digitalen Kapitalismus wie zarte Pflänzchen aus. Auch hier der Versuch, das wesentlich Neue dieser Revolutionen in Etappen festzuhalten:
Die erste Etappe beginnt mit den Betriebssystemen von IBM, Microsoft und Apple, ohne die jeder Computer ebenso leblos ist, wie ein Mensch ohne zentrales Nervensystem. Hand in Hand mit der Entwicklung leistungsfähigerer Computer, mauserte sich die Software zur eigentlichen Gelddruckmaschine. Computer konnte am Ende fast jeder zusammenschrauben, doch Betriebssysteme und Anwendungen - beides immaterielle Produkte – ließen sich monopolisieren und nahmen ihre Anwender in Geiselhaft. Wer sich den Softwarediktatoren auslieferte, und das waren in wenigen Jahren Milliarden Menschen, Firmen und Behörden, wurde zum dauerhaften Zwangskunden: Wegducken und Konsumverzicht wurde mit digitaler Handlungsunfähigkeit bestraft.
Die zweite Etappe begann mit dem Internet, einer menschheitsgeschichtlichen Revolution, die den Vergleich mit der Erfindung der Schrift und des Buchdrucks nicht scheuen muss. Mit dem Unterschied, dass seine weltweite Ausbreitung nicht Jahrtausende oder Jahrhunderte, sondern nicht mehr als zwei Jahrzehnte benötigte. Und, das globale Internet war für die Globalisierung der kapitalistischen Akkumulation wichtiger, als alle bisher in der bürgerlichen Gesellschaft entwickelte Techniken.
Aber erst die dritte Etappe brachte die jetzt existierende Mutation des Kapitalismus zustande, nämlich die globale Integration von Produktion, Distribution und Wertschöpfung. Keine Akkumulationsbewegung des Kapitals, die nicht durch das Netz effektiver und kostengünstiger gemacht wurde und kein Geschäftszweig, der sich nicht durch die globale Vernetzung radikal verändert hätte. Doch damit nicht genug, schuf das Internet auch neue Profitquellen. Hinter Suchmaschinen und sozialen Netzwerken, die als kostenlose Dienstleistungen daherkommen, verbergen sich globale Datensammler und Marktforscher, denen nichts verborgen bleibt, was Menschen wünschen und ihnen demnächst auch angeboten wird. Wie profitabel dieses Daten- und Werbegeschäft ist, verraten nicht zuletzt die märchenhaften Profite von Google & Co. So startete Google 1998 mit einem Startkapital von gerade mal einer Million Dollar, erhöhte seinen Wert aber in nur 17 auf 570 Milliarden. Allein im vergangenen haben die 20 weltweit wertvollsten Internet-Unternehmen rund 400 Milliarden Dollar an Wert zugelegt. Nur zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum standen der Welthungerhilfe, zur Unterstützung von 7,3 Millionen Menschen mit 400 Projekten in 41 Ländern, nur 180 Milliarden Euro zur Verfügung
Wie viel der 400 Milliarden Wertgewinn für die Internetunternehmen fiktives Kapital, sind, also sich lediglich auf Erwartungen gründen, spielt so lange keine Rolle, wie die IT-Riesen flüssig bleiben und weitere Investitionen tätigen oder andere Unternehmen aufkaufen können. Wobei die digitale Wirtschaft schon längst nicht mehr nur mit Bits und Byte handelt, sondern wie Apple mit I-Phone und I-Pad in die Spitze der industriellen Produzenten aufgestiegen ist. Google will demnächst Autos bauen und Amazon mit dem Bau von Drohnen beginnen. Das Besondere an dieser Entwicklung ist aber nicht, dass die Digitalwirtschaft in die Industrie investiert, sondern, dass sie mit ihren digitalen Innovationen die industrielle Produktion in eine fragwürdige Richtung drängt. Ihre Innovationsfähigkeit beschränkt sich naturgemäß auf marktgängige Konsumgüter und endet genau da, wo es zwar einen gesellschaftlichen Bedarf aber keine zahlungsfähige Nachfrage gibt. Die digitale Mutation des Kapitalismus wird uns deshalb selbst fahrende Autos, sprechende Waschmaschinen und selbst einkaufende Kühlschränke bescheren aber kaum etwas dazu beitragen, dass das menschliche Leben im digitalisierten Kapitalismus lebenswerter wird.
Harald Werner 15.9.2016
[3] https://www.oxfam.de/ueber-uns/aktuelles/2016-01-18-62-superreiche-besitzen-so-viel-haelfte-weltbevoelkerung/