Harald Werner - Alles was links ist
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Nach dem

„Ende der Geschichte“

Auf dem Gipfel seiner Macht verkündete der Neoliberalismus das „Ende der Geschichte“ und nun erleben wir mit atemberaubender Geschwindigkeit, wie nicht nur der Neoliberalismus zu Ende geht, sondern eine ganze Geschichtsepoche, die mit den politischen und technischen Revolutionen am Anfang des 20. Jahrhunderts begann und nun offensichtlich auslaufen wird. Als der Amerikaner Fukuyama nach der Implosion des Realsozialismus das Ende der Geschichte verkündete, gehörte der übergroße Teil der Sozialwissenschaftler und Philosophen bereits einer Glaubensgemeinschaft an, die sich postmodern nannte und mit der Moderne auch das historische Denken der Aufklärung für erledigt betrachtete. Das rächt sich jetzt bitter, weil mit dem Verzicht auf das Denken in historischen Dimensionen auch all jene Theorien dem erinnerungslosen Vergessen geopfert wurden, die die jetzige Krise erklären könnten. Denn diese Krise ist nur erklärbar, wenn man ihr historisches Gewordensein untersucht. Die Mainstream-Ökonomie ist mit ihren mathematischen Modellen dazu eben so wenig in der Lage, wie die herrschende politische Elite, weil auch sie den Kapitalismus für das Ende der Geschichte hält.

Krisentheoretisch hatte der sowjetische Ökonom Kondratjew bereits 1926 entdeckt, dass die Zyklen der Konjunkturkrisen durch lange Wellen überlagert werden, die durch einen Paradigmenwechsel in der kapitalistischen Ökonomie gekennzeichnet sind.[i] Nichtmarxistische Ökonomen wie Schumpeter und Keynes griffen diese Überlegungen auf und entwickelten dazu eigene Theorien. Insbesondere Keynes aber auch Fourastié kamen zu dem Schluss, dass der Kapitalismus immer weniger Wachstum produzieren wird, was notwendigerweise die Konjunkturkrisen vertieft und deshalb nach einem Gegensteuern durch staatliche Nachfrage und Arbeitszeitverkürzung verlangt. Meistens ist dies das Einzige was vor allem von Keynes im öffentlichen Bewusstsein hängen blieb, während seine Analyse über die geschichtliche Tendenz des Kapitalismus weitgehend unbekannt ist. Das Gleiche gilt natürlich für Marx, dessen Theorie zum fiktiven Kapital momentan sogar in der bürgerlichen Presse eine erstaunliche Wiederentdeckung erlebt.

Marx hatte nachgewiesen, dass die kapitalistischen Krisen durch die Überakkumulation von Kapital entstehen und, dass die jeweiligen Konjunkturkrisen zwar zu einer Bereinigung führen, dass es aber eine langfristige Tendenz der Überakkumulation von Geldkapital gibt, die letztlich zu einer Erlahmung der kapitalistischen Wertschöpfung führt.[ii] Sehr vereinfacht wird das im marxistischen Diskurs häufig auch als „tendenzieller Fall der Profitrate“ bezeichnet. Dahinter steckt die auch von Keynes gemachte Beobachtung, dass sich die Wachstumspotenziale von einem zum anderen Konjunkturzyklus aus zwei Gründen zwangsläufig abschwächen müssen. Der erste ist, dass die toten Produktionsmittel stets schneller wachsen als die lebendige Arbeit, so dass die Massenkaufkraft stagniert, die Nachfrage erlahmt und Produktionskapazitäten ungenutzt bleiben. Es kommt zu Entlassungen, Arbeitslosigkeit und Konkursen, so dass die Konjunktur zusammenbricht. Der zweite Grund ist entscheidender und betrifft die spezielle Rolle des Geldkapitals, das sich von Zyklus zu Zyklus vermehrt, das Wachstum hemmt und schließlich zu einer großen Krise führt, in der ungeheure Mengen an produktivem aber auch an Geldkapital vernichtet werden. Die Bewegungsgesetze des Geldkapitals sind für das Verständnis der momentanen Krise ebenso wichtig, wie für die Annahme, dass diese Krise eine neue Epoche einleiten wird. Einen Beweis für den „Zusammenbruch des Kapitalismus“ liefert sie freilich nicht.

Wenn Geld zur Ware wird

Geld verwandelt sich in Kapital indem es Waren einkauft, die später zu einem höheren Wert auf den Markt gebracht werden können. Doch die wichtigste Geldvermehrung findet im Kapitalismus nicht dadurch statt, dass Waren billig ein- und teuer verkauft werden, sondern sich das Geld einerseits in Produktionsmittel und andererseits in Arbeitskraft verwandelt. Denn weil die Ware Arbeitskraft durch ihren Verbrauch nicht wertlos wird, sondern einen höheren Wert produziert, als sie selbst kostet, entsteht aus der Kombination von Produktionsmitteln und Arbeitskraft ein Mehrwert. Dieser wird zum Profit, wenn es dem Kapitalisten gelingt, seine Waren zu ihrem Wert zu verkaufen. Doch auf einer höheren Entwicklungsstufe wird der aus der Warenproduktion entstehende Profit nicht mehr vom Kapitalisten konsumiert und in die Erweiterung der Produktion investiert, sondern das Ersparte wird in Geldkapital verwandelt, das selbst als Ware auftritt und sich auf den Finanzmarkt begibt um dort seine Dienste anzubieten.[iii] Anfangs nur als Kredit, der zu einem Zinssatz angeboten wird, der in etwa dem Durchschnittsprofit in der Produktion entspricht. Womit der Profit, der durch Geldkapital erzielt werden kann, mehr oder weniger auf die Realwirtschaft bezogen ist.

Doch das Geldkapitals emanzipiert sich im Laufe seiner Vermehrung immer mehr vom Durchschnittsprofit der Realwirtschaft und dem üblichen Zinssatz des Kredits, weil ihm die liberale Welt des Finanzkapitals ein fast zügelloses Eigenleben erlaubt. Als frei handelbare Ware hat das Geldkapital den Vorteil, sich höchst flexibel überall anlegen zu können, wo es gerade knapp ist und in aussichtsreiche Unternehmungen einsteigen kann: Es beteiligt sich direkt an diesen Unternehmungen, indem es zum Beispiel Aktien erwirbt und damit zwar das Risiko des Verlusts trägt, dafür aber auch einen über dem durchschnittlichen Zins liegenden Profit erwarten darf. Erst auf dieser Stufe der kapitalistischen Entwicklung entsteht die vollständige Illusion, dass Geld arbeiten kann.

Das fiktive Kapital

Eine Aktie entspricht am Anfang, wenn sie auf den Markt, das heißt an die Börse geht, in etwa einem bestimmten Anteil des im Unternehmen vorhandenen Realkapitals plus der Gewinnerwartung. Und an dieser Stelle beginnt das relative Eigenleben des Geldkapitals, denn die Gewinnerwartung ist natürlich eine höchst unsichere Angelegenheit und sie spiegelt auch nicht den aktuellen Zustand der Wirtschaft wider, sondern lediglich eine mehr oder wenig begründete Hoffnung. Auf jeden Fall wird sich das Geldkapital nur dort anlegen, wo der Gewinn höher ist, als bei einer gewöhnlichen Sparanlage. Nehmen wir an, es werden 100.000 Euro angelegt, für die man bei der Bank vielleicht fünf Prozent bekäme, dann muss die Rendite einer Aktie mindestens fünf Prozent plus Risikoaufschlag betragen. Setzen wir den Risikozuschlag ebenfalls mit fünf Prozent an, dann ist mein für 100.000 Euro gekauftes Aktienpaket nun 110.000 Euro wert. Dieser Wert ist aber eine reine Annahme, weshalb man in diesem Fall von fiktivem Kapital spricht. Doch da Menschen ihr Leben grundsätzlich auf Hoffnungen gründen, die sich nicht selten als Fiktion herausstellen, ist auch das fiktive Kapital eine stabile Lebensgrundlage. In der Welt der Finanzmärkte nährt sich das Kapital von Hoffnungen, die ins Unermessliche wachsen können. Trotzdem wird bei der Verwandlung von Hoffnungen in reale Werte immer noch gerechnet. Nehmen wir an, dass die Bewertung meines Aktienpakets mit 110.000 Euro der durchschnittlichen Rendite von Aktien entspricht, dann werde ich bei einem Wiederverkauf auch nur 110.000 Euro erhalten. Stellt sich aber nach der ersten Zwischenbilanz des Unternehmens heraus, dass sein Profit wahrscheinlich doppelt so hoch wie üblich ist, dann verdoppelt sich mit der Verdopplung der Gewinnerwartung auch der Wert meines Aktienpakets. Rein fiktiv besitze ich dann auf einmal 220.000 Euro. Das ist wie beim Handel mit Mietshäusern. Ein Haus, das plötzlich die doppelte Miete abwirft, verdoppelt auch seinen Verkaufswert, obwohl sich die Größe des Hauses um keinen Quadratmeter erhöht hat. Mit welcher Geschwindigkeit fiktives Kapital entstehen kann, zeigte sich jüngst bei der VW-Aktie, deren Wert innerhalb weniger Wochen um 400 Prozent kletterte.

Die Geldvermehrung an der Börse ist die älteste und noch relativ übersichtliche Form zur Produktion fiktiven Kapitals. Zwar kann auch der Aktienhandel gewaltige Spekulationsblasen schaffen, doch die Kopplung an das produktive Kapital ist immer noch so eng, dass die Blase recht schnell platzt, wenn sich die Gewinne nicht realisieren. Auf dieser Entwicklungsstufe bleibt das produktive Kapital der bestimmende Faktor gegenüber dem Finanzkapital.

Völlig losgelöst....

Je mehr Geldkapital vorhanden ist, desto reichhaltiger werden die Formen seiner Vermehrung. Neben dem Handel mit Aktien, Währungen oder anderen Formen des Geldkapitals, legt es sich in so genannten Derivaten an. Das sind erstens Kontrakte, vertragliche Vereinbarungen also, mit denen sich Marktteilnehmer gegen Risiken absichern können, wie etwa den Wertverlust von Währungen oder Aktien. Zum Beispiel schließt die Airbusindustrie Kaufverträge in Dollar ab und muss vielleicht befürchten dass der Dollarkurs sinkt, so dass sie für den gleichen Kaufpreis wesentlich weniger Euro bekommt und deshalb in die roten Zahlen rutscht. Deshalb versichert sie sich an der Terminbörse gegen einen billigen Dollar. Gleichzeitig gibt es aber auch Derivate, nämlich Optionen, mit denen man sich den Preis für ein bestimmtes Produkt sichern kann. Zum Beispiel will ein Marktteilnehmer in einem Jahr eine Tonne Rohöl kaufen, ist sich aber nicht sicher, ob sich der Preis nicht innerhalb der Nächsten Monate verdoppelt. Also erwirbt er die Option auf eine Tonne Rohöl zum aktuellen Preis. All diese Finanztitel können für die Verkäufer dieser Papiere zu großen Gewinnen oder auch zu Verlusten führen. Das Besondere aber ist, dass eine solche Versicherung oder auch Option nur einen Bruchteil dessen kostet, was das eigentliche Produkt an realem Wert hat, so dass sich mit geringem Kapitaleinsatz erhebliche Gewinne erzielen lassen. Es können aber auch Totalverluste entstehen, wenn die Spekulation auf steigende oder fallende Preise nicht aufgeht. Weil sich die Wahrheit zu einem bestimmten Termin herausstellt, wird hier auch von Termingeschäften gesprochen.

Doch die Händler dieser Derivate handeln nicht auf eigenes Risiko, sondern sie verkaufen ihre „Produkte“ über entsprechende Terminbörsen an Banken, Privatkunden und Unternehmen, so dass Gewinne und Verluste bei Instituten, Firmen oder Privatleuten landen, die niemand für Spekulanten halten würde. Ähnlich verhält es sich zum Beispiel beim Handel mit Paketen aus Tausenden von Immobilienkrediten, die in diesem Sommer zum Auslöser der Finanzmarktkrise wurden. Immer wird ein Kontrakt verkauft, hinter dem sich kaum durchschaubare Geschäfte verbergen. Doch so sehr sich diese Produkte und ihr Markt auch jenseits der realen Wirtschaft entwickeln, am Ende hat ein Unternehmen oder Privatperson dafür reales Geld bezahlt, hofft auf weit überdurchschnittliche Gewinne oder verliert seinen Einsatz bei einem Totalverlust. Unternehmen hoffen jenseits ihrer realen Produktion das Doppelte an Gewinn zu machen, legen ihr Profit in Geldkapital an und müssen Konkurs anmelden, wenn ihre Hoffnung nicht aufgeht. Am härtesten trifft es Privathaushalte, die in diesen Geschäften ihre Notgroschen angelegt haben oder wie in den USA an einen Pensionsfonds gebunden sind, der zweistellige Renditen versprach und nun in die Pleitezone gerät.

Der finanzmarktgetriebene Kapitalismus

Das Ausmaß des auf diese Weise aufgeblähten Finanzkapitals ist so gut wie unbekannt. Seriöse Schätzungen gehen davon dass, das im Umlauf befindliche Geldkapital zehnmal so groß ist wie das jährliche Bruttosozialprodukt der gesamten Welt. Für den Warenaustausch auf dem Weltmarkt wechseln täglich „nur“ 26 Milliarden US-Dollar ihren Besitzer, doch der Handel mit Derivaten bewegt täglich Werte von 3.859 Milliarden und der Handel mit Währungen 3.210 Milliarden Dollar.[iv] Dass diese gewaltige Summe nicht nur fiktives Kapital ist, zeigt zum Beispiel ein Blick in die deutsche Vermögensstatistik. Nach Angaben der Deutschen Bundesbank hatten die privaten Haushalte in Deutschland  Ende 2007 Geldvermögen in Höhe von 4,56 Billionen Euro aufgebaut. Das sind 150 Milliarden Euro mehr als Anfang des Jahres. Der Geldvermögensbestand der privaten Haushalte betrug damit Ende 2007 fast das Dreifache des verfügbaren Einkommens. Noch interessanter als diese kaum vorstellbare Summe ist allerdings, wie dieser Geldberg entstanden ist. So ist das deutsche Bruttoinlandsprodukt zwischen 1997 und 2007 um 16,5 Prozent gestiegen, doch die Masseneinkommen haben sich deutlich langsamer entwickelt, nämlich um 14,3 Prozent. Die Differenz ist nicht etwa in neue Produktionsanlagen investiert worden, sondern wurde vor allem von den Beziehern von Gewinn- und Vermögenseinkommen gespart. Deshalb sind die privaten Geldvermögen in diesem Zeitraum um 54 Prozent gestiegen. Also etwa dreimal so schnell wie die gesamte Wirtschaftsleistung. Dies wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht im gleichen Zeitraum die reale Kaufkraft der abhängig gesunken und die BRD zum Niedriglohnland geworden wäre. Das Sinken der Löhne und die Explosion des Geldkapitals hängen miteinander zusammen wie die Sünde und der Teufel, denn die grundlegende Ursache der Überakkumulation von Geldkapital wurzelt in der Absenkung der gesellschaftlichen Lohnquote. Der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen ist seit Jahren weltweit rückläufig und in der Bundesrepublik auf das Niveau der 1960er Jahre zurückgefallen.

Die zunehmende Verteilungsungerechtigkeit ist aber nicht nur die Ursache der explosiven Entwicklung des Geldkapitals, sondern auch eine Voraussetzung für die fortgesetzte Verschlechterung der Verteilungsverhältnisse. Die Dominanz des Finanzkapitals über die Realwirtschaft erzeugt einen wachsenden Druck auf Löhne, Arbeitsbedingungen und soziale Standards. Schließlich wird die gesamte Ökonomie durch die Renditevorgaben des Finanzkapitals gelenkt und die Staaten in einen für die Gesellschaft ruinösen Wettbewerb um sinkende Steuern, aufgeschobene Investitionen und gesenkte Sozialabgaben getrieben. Das Finanzkapital fragt nicht nach den Bedingungen unter denen produziert wird und im Gegensatz zum tätigen Unternehmer ist ihm auch völlig gleichgültig, ob die Produktion auch in der kommenden Periode fortgesetzt werden kann.

Der von den Finanzmärkten ausgehende Druck erscheint den Betroffenen nicht als persönliche Skrupellosigkeit der Vermögensbesitzer, sondern als von der Globalisierung verursachter Sachzwang. Schuld sind scheinbar keine Menschen, sondern Markt und Wettbewerb, die wiederum den Rang überirdischer Mächte einnehmen und durch die Reden der Politiker in den Status demokratischer Grundprinzipien erhoben werden. Markt und Wettbewerb kennen wiederum nur ein Prinzip, und das heißt Renditesteigerung. Nicht, dass dieses Prinzip neu für den Kapitalismus wäre, doch im von den Finanzmärkten getriebenen Kapitalismus setzt es alle anderen Prinzipien außer Kraft, weil die Marktteilnehmer weder ein Interesse an den Beschäftigten, noch an der Produktion oder an den Ländern haben, denen sie ihre Rendite verdanken, sondern ausschließlich auf den Kurs und seine Steigerungsraten schauen. Und das gilt nicht nur für die Akteure an den Börsen oder die Manager der großen Fonds, sondern vor allem für die „unschuldigen“ Bezieher von Vermögenseinkommen – egal wie groß oder klein dieses Vermögen auch sein mag.

Die Renditeerwartungen des Finanzkapitals üben einen bewusstlosen aber sehr gezielten Druck auf die Realwirtschaft aus. Als erstes auf den Aktienwert, der im Laufe der Zeit wichtiger wird, als die letztlich ausgezahlte Dividende. Die kurzfristige Steigerung des Aktienwertes ist für die Finanzinvestoren sehr viel attraktiver, als eine langfristig gesicherte Dividende, denn was ist schon ein realer, aus Produktion und Absatz entstehender Profit von sieben Prozent gegenüber einer kurzfristigen Erhöhung des Aktienwertes von 50 oder mehr Prozent? Der Shareholder, also der Aktieninhaber, wechselt von der einen in die andere Investition, um dabei zu sein, wenn der Aktienwert explodiert und wieder auszusteigen, wenn der Shareholder-Value, also der für ihn allein interessante Wert sinkt. Und an dieser Rallye beteiligen sich nicht allein Aktieninhaber, sondern ein ganzes Heer von Fondsmanagern, Börsenhändlern und auch die Finanzabteilungen der großen Konzerne. So hat zum Beispiel Porsche im vergangenen Geschäftsjahr an der spekulativen Blase der VW-Aktie das Vielfache von dem verdient, was die Autoproduktion einbrachte. Selbst scheinbar seriöse Einrichtungen wie Pensionskassen, gemeinnützige Stiftungen oder biedere Sparkassen deponieren ihre Rücklagen am Spieltisch des Kasinokapitalismus, um zweistellige Renditen zu erwirtschaften. So musste die renommierte Harvard Universität einen großen Teil ihres Lehrpersonals entlassen, weil sie ihr Stiftungskapital in spekulative Finanztitel investiert und große Teile davon verloren hatte. 

Warum diese Epoche zu Ende gehen wird

Wenn vom Ende einer Epoche geredet wird, ist damit der Bruch mit einer bis dahin erfolgreichen Regulierungsweise für Ökonomie und politische Herrschaft gemeint. Es geht also um einen größeren Zeitabschnitt, ohne bereits sagen zu können, wie die nächste Epoche aussehen wird. Auf jeden Fall werden sich die Anforderungen der materiellen Produktion, die Probleme der Globalisierung und vor allem die drohenden Gefahren des Klimawandels nicht lösen lassen, ohne die Dominanz des Finanzkapitals radikal zu brechen und die Überakkumulation des Geldkapitals abzubauen.

Zunächst einmal hat es den Anschein, als würde die Vernichtung des fiktiven Kapitals vor allem die treffen, die das große Rad auf den Finanzmärkten gedreht und daran auch nicht schlecht verdient haben. Doch schon der Zusammenbruch der Banken trifft weniger die Bankaktionäre, als das Bankensystem selbst, das ja vor allem eine unverzichtbare Dienstleistung sichern soll, nämlich das Verwalten von Geldüberschüssen und ihre Verwandlung in Kredit. Jede auf Geld und Warenproduktion gegründete Gesellschaft ist auf solche Geldsammelstellen angewiesen, um den aus der Produktion oder privaten Ersparnissen entstandenen Geldüberschuss dort hin zu leiten, wo er gerade gebraucht wird - und das ist zunächst einmal die Realwirtschaft. Kein Unternehmen kann große Geldbestände ansammeln, um sie im Falle eines neuen großen Auftrages für den Kauf von Produktionsgütern und Arbeitskräften vorzuschießen, sondern es nimmt dafür einen Kredit auf. Brechen die Banken zusammen oder halten sie ihre Rücklagen fest, um nicht in Konkurs zu gehen, brechen deshalb zahllose Unternehmen zusammen, kommt die Wirtschaft zum Erliegen, nimmt die Arbeitslosigkeit zu und dem Staat versiegen die Einnahmen. Das war der typische Verlauf aller großen Finanzkrisen der letzten beiden Jahrhunderte. Die größte davon erlebte die Menschheit 1929 und, dass sie überwunden und von einer relativ langen Phase des Aufschwungs und der Stabilität abgelöst wurde, lag vor allem am Zweiten Weltkrieg. Er hat so große Mengen an Geld und Realkapital vernichtet, dass die Entwicklung einer sich langfristig aufbauenden Überakkumulation annähernd bei Null beginnen konnte.

Doch schon in dieser Phase, die oft als goldenes Zeitalter des Kapitalismus bezeichnet wird, begannen die Probleme aufs Neue. Das überschüssige Geldkapital bekam Verwertungsschwierigkeiten und der Profit kam nur deshalb nicht zum Versiegen, weil die rückläufige Profitrate von der mengenmäßigen Ausweitung der Produktion überlagert wurde. Als dies in der großen Krise der 1970er Jahre seine Grenzen fand, schlug die Stunde des Neoliberalismus, der dem Geldkapital durch Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung neue und vor allem globale Anlagemöglichkeiten eröffnete. Und diese Aktionsmöglichkeit erweiterte sich noch einmal durch den Zusammenbruch des ökonomischen und politischen Machtblocks der Sowjetunion. Vor allem in den 1990er Jahren, und beflügelt durch den Aufstieg der ostasiatischen Märkte, eröffneten sich dem Finanzkapital hoch profitable Anlagemöglichkeiten und der Realwirtschaft neue Nachfrage. Heute kann man sagen, dass diese kurze Erfolgsgeschichte ihren eigenen Untergang produziert hat. In dieser Zeit nahm die Ungleichmäßigkeit zwischen der Investition in produktives Kapital und dem Wachstum der Finanzinvestitionen bisher noch nie gekannte Größenordnungen an. Womit nicht nur der jetzige Kollaps eingeleitet wurde, sondern auch eine Abnahme der Produktivität. Denn die riesigen Gewinne der Finanzmärkte speisten sich nicht in erster Linie aus der Weiterentwicklung der materiellen Produktivkräfte, sondern aus einer intensiveren Ausbeutung der lebendigen Arbeit. Und das nicht nur in den neuen kapitalistischen Ökonomien, sondern auch in den entwickelten Industriestaaten. Denn Lohnsenkung und Ausdehnung der Arbeitszeit erhöhen die Produktivität des Kapitals nicht hauptsächlich durch neue Technologien, also eine relative Erhöhung des Mehrwerts, sondern durch eine quasi frühkapitalistische Form der Ausbeutung unter Verwendung neuer Technik. Beispiel: Die chinesischen Arbeiterinnen produzierten zu niedrigsten Löhnen Konsumwaren, die zu niedrigen Preisen im Westen verkauft wurden, was es dem Kapital erleichterte hier die Löhne zu drücken.

Es ist also nicht nur die aberwitzige Menge fiktiven Kapitals, das der gegenwärtigen Krise einen besonders dramatischen Charakter verleiht, sondern auch das Auslaufen eines Entwicklungsmodells, das seine eigenen Grundlagen zerstört: In den Ländern, die dem kapitalistischen Weltmarkt zugeschlagen wurden, wurden in nur wenigen Jahren über Jahrhunderte gewachsene soziale Strukturen zerstört, ohne, dass etwas Gleichwertiges an ihre Stelle treten konnte. Und dies ist nicht nur ein soziales, sondern vor allem auch ein ökonomisches Problem, weil die Gratiskräfte der Gesellschaft, die nämlich Arbeitskräfte und sozialen Frieden sichern, aufgebraucht worden sind. Dieser Raubbau an sozialen Ressourcen ist nicht geringer zu veranschlagen, als der Raubbau an der Natur. Wobei man sich in diesem Zusammenhang die Zerstörungen, die Zunahme unkontrollierter Gewalt und das Zerfallen ganzer Staaten vor Augen halten muss, was zwar neben den globalen Profitzentren stattfand, aber ebenfalls durch den globalen Tanz ums goldene Kalb verursacht wurde. Gleiches lässt sich auch für solche entwickelten und reichen Länder wie die Bundesrepublik oder die USA feststellen, wo die Zonen des Elends wachsen, die Infrastruktur vernachlässigt wird und die Gewaltbereitschaft zunimmt.      

Doch natürlich geht keine Epoche zu Ende, wenn sich nicht bereits die Möglichkeiten einer neuen herausgebildet haben. Und das ist nicht nur das riesige Potenzial der neuen Produktivkräfte, das weder in der Ausweitung immer unnützerer Konsumartikel und erst recht nicht durch die Produktion entsetzlich perfekter Waffensysteme ausgeschöpft wird. Diese Möglichkeiten schlummern auch in den globalen Netzwerken der Ökonomie, der Politik und der Zivilgesellschaft. Hier sind bereits die kommunikativen und auch administrativen Strukturen entstanden, die nur von ihren kapitalistischen Fesseln befreit werden müssen, um die gewaltigen Zerstörungen des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus zu überwinden und die global herrschenden Problemlagen wieder in den Griff zu bekommen.

Es gibt nicht nur einen Weg, um die Krise zu überwinden

Selbst wenn die oben beschriebene kapitalistische Epoche zu Ende gehen sollte, bleibt völlig offen wie es weitergeht. Schon Marx hat nicht nur das Herannahen einer neuen, sozialistischen Gesellschaftsordnung prophezeit, sondern auch das Gegenteil für möglich gehalten, nämlich den gemeinsamen Untergang der gegeneinander kämpfenden Klassen. Auch Rosa Luxemburgs „Sozialismus oder Barbarei“ lässt ahnen, dass die menschliche Geschichte in Agonie enden kann. Was erst seit kürzerer Zeit die Ökologie für möglich hält, ist für die Kritik der Politischen Ökonomie im Grunde nichts Neues. Doch auch die Auswege sind nicht gleich auf den sozialistischen Nenner zu bringen. Was sich gegenwärtig als Alternative abzeichnet, ist in erster Linie ein dirigistischer und autoritärer Staat, wie ihn am ehesten China repräsentiert, der aber auch in Russland angelegt ist und in vielen westlichen Ländern möglich scheint, wenn bestimmte innenpolitische Entwicklungen ausgedehnt und auf die Wirtschaft übertragen werden. Diese Variante des Auswegs aus der Krise ist umso wahrscheinlicher, je schwächer die demokratische Linke und je größer der allgemeine Politikverdruss. Die Eingriffe des Staates in die Wirtschaft werden dann ebenso zunehmen, wie die autoritäre Regelung der Verteilungsverhältnisse, wie man das aus Kriegswirtschaften kennt. Wird das Ganze populistisch übertünscht, könnte diese Variante leicht eine Mehrheit finden. Alle anderen Varianten, die über den Kapitalismus hinausweisen, sind letztlich auf einen neuen gesellschaftlichen Konsens und auf demokratische Aushandlungsprozesse angewiesen. Das Wichtigste ist natürlich die gezielte Entwertung des überschüssigen Geldkapitals und die Verwandlung eines großen Teils der verbleibenden privaten Geldvermögen in öffentliche Investitionen, um zu einer zwar ökologisch verträglichen aber für die anstehenden Aufgaben unverzichtbaren Erhöhung der Wertschöpfung zurückzukehren. Doch muss man sich darüber im Klaren sein, dass das eigentliche Ziel nicht die Ökonomie ist, sondern die Zwecke, die man mit ihr erreichen will.

Harald Werner 11.12.08

 

 


[i]           Eine verständliche Erläuterung dazu findet man bei Immanuel Wallerstein, „Die große Depression“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11´08, S.5

[ii]           Das Problem der Überakkumulation wird gut von Stephan Krüger erklärt in: „Finanzkrise, Überakkumulation und die Rückkehr des Staates“, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, 12/2008

[iii]           Marx behandelt dieses Thema im Dritten Band des Kapitals, MEW 25 S.481 folgende

[iv] Vom Ursprung, Wesen und Untergang der Spekulationsgewinne - ein politökonomischer Diskussionsbeitrag Karl Mai - 1. Dezember 2008 http://www.memo.uni-bremen.de/sonstindex.html


[angelegt/ aktualisiert am  10.12.2008]