Einigen Medien gefällt es, den Technokraten Sarrazin als intellektuellen Querdenker zu inszenieren. Und tatsächlich ist das die ihm eigene, gut gepflegte Inszenierung. Der Mann kann rechnen, hat ein Fable für Statistiken und ist in der Lage ein gutes Dutzend maßgeblicher Autoren zu zitieren. Mir selbst hat er anlässlich eines mehrstündigen Gesprächs bekannt, überzeugter Anhänger des kritischen Rationalismus zu sein. Also Vertreter einer in den Sozialwissenschaften gängigen Philosophie, die sich angeblich nur auf messbare Fakten stützt, aber die Frage ausblendet, wie diese Fakten entstanden sind. So haben zum Beispiel schon vor Jahrzehnten amerikanische Soziologen durch Tests nachgewiesen, dass Kinder von Schwarzen einen niedrigen Intelligenzquotienten aufweisen, während die Kinder der Oberklasse überdurchschnittlich gut abschneidet. Mathematisch statistisch ist das einwandfrei und wiederholbar, aber totaler Blödsinn. Nach der gleichen Methode ließe sich zum Beispiel nachweisen, dass Katholiken häufiger Sex haben, weil sie mehr Kinder zeugen. Statistiken ermitteln zahlenmäßige Zusammenhänge, aber sie erklären sie nicht.
Was Sarrazin über Lebensstile oder Bildungsniveaus von Unterschichteneltern und Migrantenfamilien von sich gibt erscheint vielen Zeitgenossen plausibel, weil es sich mit hervorstechenden Alltagsbeobachtungen deckt. Aber erstens werden damit die gesellschaftlichen Ursachen solcher Erscheinungen ausgeblendet und zweitens mangelt es dafür sogar an statistischen Beweisen. Doch hat dies alles nichts mit Rassisimus zu tun, denn auf fleißige Vietnamesen oder intelligente Juden lässt Sarrazin absolut nichts kommen. Der Bundesbanker hat keinen Rassen-, sondern einen Klassendünkel. Und nur, weil sich Sarrazin als Querdenker inszeniert oder mit Zahlenkolonnen hantiert, ist er auch noch lange kein Intellektueller. Im Gegenteil, sein halsbrecherischer Umgang mit Zahlen belegt, dass er zwar alles erklären aber nichts begreifen kann. Wobei ihm zugute kommt, dass auch die meisten Redakteure nicht begreifen, welchen Unsinn sie täglich veröffentlichen: Manchmal ist die halbe Wahrheit gefährlicher als die ganze Lüge.
Halbwissen und so genannter gesunder Menschenverstand geben eine gefährliche Mischung ab, mit der sich vor allem Kampagnen gegen Außenseiter, Andersdenkende oder Benachteiligte entzünden lassen. Sarrazin kommt das Verdienst zu, solchen Kampagnen bestens geeignetes Material zu liefern. Da kommt doch ein Bundesbankvorstand und erklärt der interessierten Öffentlichkeit, weshalb ein großer Teil der bundesdeutschen Bevölkerung und vor allem auch der Migranten, Deutschland in den Abgrund treibt. Was liegt da näher, als darüber nachzudenken, wie man dieses Gesocks loswerden kann? Vor wenigen Jahren wäre das absurd und kurios erschienen, aber heute, angesichts überbordender Staatsschulden, drohender Sparprogramme und unbewältigter Krisenängste, ist die Drohung mit dem Abgrund explosiv. Ebenso explosiv wie der Antisemitismus nach der Weltwirtschaftskrise von 1929.
Und auf die gleiche Weise, wie sich damals wissenschaftliche Halbwahrheiten und soziale Vorurteile auf gefährliche Weise mischten, mixt auch Sarrazin sein Halbwissen mit gefährlichen Vorurteilen. Damals war es die Vererbungslehre Mendels, heute sind es die Genforschung oder auch die Fortschritte bei der Kartierung des Gehirns. Das Halbwissen Sarrazins darf in dieser Hinsicht als exemplarisch betrachtet werden. Um es einfach zu sagen: Unser Schicksal wird nur in einem sehr begrenzten Maße durch unsere Gene bestimmt. in der Regel betrifft dies nur wenige vererbbare Krankheiten oder unsere körperliche Grundausstattung, nicht aber unsere Gesundheit oder gar die Fähigkeit zum logischen Denken. Nicht nur unser Gehirn besitzt eine überraschende Entwicklungskapazität, die sich erst in einer anregenden sozialen Umwelt entfaltet, sondern selbst unsere Gene sind erstaunlich lernfähig. Man kann auch sagen: Das Pferdegesicht unseres Bundesbankers ist durchaus vererbbar, für seine mürrischen Gesichtszüge aber ist er ebenso selbst verantwortlich, wie für sein engstirniges Zahlendenken.
Entscheidender an Sarrazins Kampagne ist freilich, dass sie Munition gegen den aufklärerischen Humanismus liefert, der unserer Verfassung zu Grunde liegt und der sich erst in Folge der 1970er Reformära durchsetzen konnte. Der dumpfe Unterschichtenrassismus aber, mit dem hierzulande den Ausgegrenzten die Schuld für ihre eigene Lage zugesprochen wird, das Bildungsprivileg der Besserverdienenden zementiert werden soll und nun auch Ängste vor dem Untergang Deutschlands geschürt werden, ist eine geeignete Vorlage zur Etablierung rechtspopulistischer Parteien nach niederländischem oder italienischem Vorbild. Kein Wunder, dass Sarrazin aus dieser Ecke bereits ein Parteivorsitz angedient wurde.
Harald Werner, August 2010