Im Vergleich zu den Abstiegssorgen und Verlustängsten der schwarz-gelben Machtinhaber erfreut sich die LINKE bei den Wahlumfragen einer fast schon beängstigenden Stabilität. Seit ihrer Gründung endete jede Wahl mit einem zuvor nicht erwarteten Erfolg und auch das gerade begonnene Superwahljahr wird daran nichts ändern, selbst wenn sich einige Hoffnungen nicht erfüllen sollten. Die LINKE wird nicht daran zerbrechen, wenn es noch ein oder zwei Landesparlamente geben sollte, in denen sie nicht vertreten ist. So oder so hat die LINKE in der kurzen Zeit ihres Bestehens eine in der BRD bisher einmalige Erfolgsgeschichte geschrieben. Und das gilt nicht nur für ihre Wahlergebnisse, sondern vor allem für die Wirkung ihrer Politikkonzepte. Das beginnt mit dem gesetzlichen Mindestlohn, der früher nicht nur von den Gewerkschaften, sondern besonders heftig auch von der SPD abgelehnt wurde und das geht weiter mit der Forderung nach einer Verstaatlichung der Großbanken, die sogar von der schwarz-gelben Bundesregierung verwirklicht wurde. Während der Finanzmarktkrise tauchten bei den anderen Parteien so manche Vorschläge auf, für die sich die LINKE zuvor noch den Vorwurf der Politikunfähigkeit gefallen lassen musste. Das Problem all dieser Erfolge ist nicht nur, dass sich die Presse nicht daran erinnern kann, sondern auch wir selber nicht.
Es hat überhaupt keinen Sinn zu leugnen, dass die LINKE Krisen durchläuft. Abstrakt theoretisch gesehen sind Krisen zwar bedrohlich aber nicht ungewöhnlich, denn alles was sich weiterentwickelt durchlebt krisenhafte Momente. Nämlich immer dann, wenn sich ein alter Zustand überlebt hat und ein neuer erreicht werden muss. Das kann natürlich auch in die andere Richtung gehen, wenn sich zum Beispiel etwas überlebt hat, wie etwa der Kapitalismus oder vielleicht auch die FDP des Herrn Westerwelle. Für die LINKE gilt dies so lange nicht, wie sie hierzulande die einzig nennenswerte Partei mit einer nicht kapitalistischen Perspektive ist und dabei, im Gegensatz zu Herrn Westerwelle, lernfähig bleibt.
Die meisten Krisen der LINKEN sind keine Zeichen der Stagnation oder gar eines Niedergangs, sondern Wachstumskrisen. Denn all ihre Möglichkeiten und positiven Potenziale bergen eben so große Chancen wie beängstigende Probleme. So ist es natürlich in der größten Krise des Kapitalismus seit über 80 Jahren eine große Chance, als einzige parlamentarisch relevante Partei über eine Alternative zumindest nachzudenken. Doch diese Chance verwandelt sich sehr schnell in ein gewaltiges Problem wenn es einerseits an wirklichkeitsfesten Antworten und andererseits an Dialogfähigkeit mangelt. Das zeigt sich zum Beispiel an der Programmdebatte, wenn die miteinander streitenden Richtungen nicht mehr zu Wege bringen, als sich gegenseitig einen Mangel an Alternativen vorzuwerfen. Dieser Tage rang sich jemand von den Meistveröffentlichten zu der Aussage durch, dass man sich zu 95 Prozent einig sei. Mich hat das außerordentlich erschreckt. Einmal weil ich nie mehr in einer Partei sein möchte, wo man sich zu 95 Prozent einig sein will und zum anderen weil es nicht stimmt, und das ist gut so. Wer so weitgesteckte Ziele wie die Realisierung eines Gegenentwurfs zur kapitalistischen Verwertungslogik hat, darf sich getrost ein hohes Maß an Uneinigkeit leisten. Manchmal kann ich mich des Eindrucks erwehren, dass es besser wäre, unsere Uneinigkeit nicht als Makel, sondern als schöpferische Unruhe nicht nur selbst zu empfinden, sondern auch so darzustellen.
Das gleiche Wachstumsproblem haben wir mit unseren parlamentarischen Erfolgen. Nicht, dass wir nicht wüssten, wie man in den Parlamenten das eine oder andere aktuelle Problem lösen könnte – sozialer, friedlicher und auch ökologischer. Nur das können andere auch. Bei uns wäre dagegen eine Antwort darauf zu finden, wie sich aktuelle und langfristige Aufgaben miteinander verbinden. Und so lange wir diese Antwort nicht zumindest gemeinsam suchen, hagelt es gegenseitige Verdächtigungen. Die einen warnen ständig vor dem Opportunismus und verlangen nach „roten Haltelinien“ und die anderen schimpfen auf wirklichkeitsfremde Ideologen und verlangen Realpolitik. Diese Krisenerscheinung bliebe uns ohne Wahlerfolge mit Sicherheit erspart. Oder nehmen wir den scheinbaren Ost-West-Konflikt, den andere gern als Krise der Vereinigung von PDS und WASG buchstabieren. Beide Seiten haben das als großen Erfolg gefeiert, dabei aber geflissentlich verdrängt, dass ausnahmslos alles, was in den letzten 20 Jahren vereinigt wurde, erhebliche Probleme produzierte. In unserem Fall geht es nicht darum, dass der eine den anderen Teil über den Tisch gezogen hat, sondern scheinbare Nebensächlichkeiten übersehen wurden. Nicht einfach nur bemerkenswerte Unterschiede, sondern auch schwer überbrückbare Gegensätze. Da hätten wir einmal die vom Realsozialismus und seiner Ideologie traumatisierte Ostlinke, die im Kapitalismus durchaus zivilgesellschaftliche Potenziale sieht, ohne ihn wirklich zu wollen, aber außerordentlich ablehnend auf Menschen reagiert, die mit Marx und Engelszungen reden. Sie möchte deshalb nach zwei Jahrzehnten praktischer Politik lieber ein Programm mit mehr Bodenhaftung haben. Auf der anderen Seite hat sich die Westlinke bereits so lange mit links blinkenden und rechts abbiegenden Realpolitikern herumgeschlagen, dass sie nichts mehr fürchtet als die Wiederholung dessen, was sie bereits mit Sozialdemokraten und Grünen durchlitten hat. Und wenn dann ein ebenso erfahrener wie erfolgreicher ostdeutscher Kommunalpolitiker verkündet „es gibt keine linke und keine rechte, sondern nur gute oder schlechte Kommunalpolitik“, dann ist das nicht nur falsch, es ist eine vermeidbare Provokation. Verkürzt gesagt: Jede Seite sieht in der anderen genau das, wovon sie sich verabschiedet hat – die einen von den Ideologie, die anderen von der Sachzwanglogik.
Am unerklärlichsten scheinen freilich die regionalen oder örtlichen Krisen, wo die Politik ins Persönliche abrutscht, in Grabenkämpfen erstickt und die Schiedskommissionen einen großen Teil der Parteiarbeit machen. Doch selbst das noch ist die Kehrseite eines Erfolges. Die LINKE hat nicht nur Hunderttausende zurück an die Wahlurnen geholt, was ein großer Gewinn für die Demokratie ist, sondern auch einige Tausend für die aktive Politik in ihren eigenen Reihen gewonnen. Geht man davon aus, dass sich die herrschende Politik vor allem auf die Entpolitisierung großer Bevölkerungsteile stützt, dann ist es ein außerordentlicher Erfolg der LINKEN, dem entgegenzuwirken. Doch die Menschen, die die Partei gewonnen hat, bringen nicht nur ihre Wut mit, sondern auch ihre Frustrationen, politische Enttäuschungen und persönlichen Verletzungen. Das macht sie misstrauisch und ungeduldig, manchmal auch unerträglich. Damit umzugehen ist nicht leicht und konfliktreich, aber es ist und bleibt die Folge einer an sich positiven Entwicklung. Die Partei sollte die daraus entstehenden Probleme weder verdrängen, noch als Randerscheinung bezeichnen, weil es sich um unausbleibliche Wachstumserscheinungen handelt.
Wenn Krisen sowohl unausweichlich, als auch chancenreich sind, hängt alles vom Krisenmanagement ab, um diese Chancen auch zu nutzen. Manager wie Politiker bewähren sich keineswegs indem sie Krisen kleinreden, sondern bewältigen können. Manchmal ist es sogar außerordentlich nützlich, eine Krise erst zu dramatisieren um anschließend mehr Aufmerksamkeit für ihre Lösung zu gewinnen. Wahrscheinlich hat die LINKE nicht nur kein gutes, sondern gar kein Krisenmanagement, denn meistens reagiert sie auf krisenhafte Erscheinungen erst wenn sie in der Zeitung stehen. Dabei weiß jeder an welchen Stellen es kriselt. Das sind die gravierenden Meinungsverschiedenheiten über das große gesellschaftliche Transformationsprojekt, das Verhältnis zwischen Realpolitik und Zukunftsvision, wie auch die tiefen kulturellen und intellektuellen Widersprüche in der Mitgliedschaft. Das Erste wäre diese Widersprüche sowohl zuzugeben, als auch immer wieder auf ihre positiven Ursachen hinzuweisen, sie öffentlich als Wachstums- und Entwicklungsformen zu interpretieren. Zweitens mangelt es diesen Widersprüchen aber offensichtlich an Bewegungsformen, in denen sie ausgetragen werden können. Das Schlüsselwort dazu heißt offensive Parteiarbeit. Wie diese Arbeit aussehen kann, hat nichts besser gezeigt als der Hannoveraner Programmkonvent. Nicht weil es dabei überaus mitreißende Referate gegeben hätte, sondern eine wirklich breite, tiefe und von großer Beteiligung geprägte Debatte. Solche Bewegungsformen an der Basis sind selten – von systematischer, inhaltlicher und nicht nur funktionsbezogener Bildungsarbeit ganz zu schweigen.
Krisenmanagement ist vor allem auch Kommunikationsmanagement, was nicht die von oben organisierte oder von Medien verbreitete Versorgung der Basis mit Presseerklärungen, Newsletters oder sonstigen Einlassungen des Führungspersonals meint, sondern eine wirkliche Parteidiskussion, in der möglichst viele möglichst viele Möglichkeiten haben, mit möglichst vielen anderen ausführlich zu reden. Und das meint nicht, dass nur die miteinander reden, die das schon immer tun. Eine lebhafte Kommunikation setzt vor allem wechselnde Kommunikationspartner voraus, vor allem zwischen denen da oben und denen da unten. Viele unserer Krisen entstehen wahrscheinlich auch erst dadurch, dass die Parteidiskussion mit der Mediendiskussion verwechselt wird. Da werden in den Medien Strömungen mit Interviews abgewatscht, ganze Landesverbände der Politikunfähigkeit bezichtigt und immer wieder Personalien skandalisiert, was zwangsläufig zu unbeherrschbaren Kommunikationskaskaden führt. Von der Presse gefragt zu werden, mag der eigenen Eitelkeit schmeicheln oder den Bekanntheitsgrad erhöhen, aber wir hätten manche Krise weniger, wenn manche Frage nicht nur anders, sondern gar nicht beantwortet worden wäre.
Harald Werner, 6. Januar 2011