Der Marktmechanismus ist eine ziemlich einfache Angelegenheit. Er funktioniert annähernd reibungslos und zuverlässig, solange es um den Kauf und Verkauf von Gütern geht, die beliebig herstellbar sind und einen vergleichbaren Gebrauchswert besitzen. Märkte haben weder gute noch schlechte Absichten, sondern gar keine. Sie haben einfach eine ziemlich nützliche Funktion. Doch spätestens beim Geld hört der Spaß auf. Geld ist nämlich eine ganz besondere Ware, die aus nichts anderem als einem Versprechen besteht. Einmal aus dem Versprechen, dafür eine reale Ware kaufen zu können, was sich als Illusion erweist, wenn das Geld seinen Wert verliert oder aber aus dem Versprechen, aus Geld mehr Geld zu machen.
Das zuletzt genannte Versprechen veranlasst sowohl ahnungslose und wohlmeinende Sparer, ihre Euros auf die Bank zu bringen, als auch spekulationsfreudige Vermögende, ihren Reichtum in Aktien, Staatsanleihen oder windige Geldgeschäfte zu verwandeln. Dass sich diese Erwartungen erfüllen, dafür sorgt nicht der Finanzmarkt, sondern die sogenannte Finanzindustrie. Eine Industrie, die keine materiellen Güter, sondern Geld produziert. Denn Geld entsteht im Gegensatz zur herkömmlichen Meinung nicht hauptsächlich in der Druckmaschine, sondern durch die Vergabe von Krediten. Das ist ein relativ harmloses und überschaubares Geschäft, so lange dabei nicht mehr herausspringt, als der marktübliche Zins und die Kreditnehmer zahlungsfähig bleiben. Doch das ist der Schnee von gestern.
Das Problem beginnt, wenn auf der einen Seite immer mehr Geldvermögen auf der Suche nach lukrativen Analagemöglichkeiten sind und es auf der anderen Seite an Wachstum mangelt, aus dem die Kreditzinsen beglichen werden können. Dann schlägt die Stunde der Finanzjongleure und Spekulanten. Diese Spezialisten der Geldvermehrung beginnen mit den ihnen überlassenen Vermögen Geschäfte zu finanzieren, die entweder langfristig nicht aufgehen, weil sich die Kreditnehmer übernehmen, oder ausschließlich getätigt werden, um gesunde Unternehmen auszuschlachten oder kurzfristige Wertsteigerungen auszunutzen. Es sind Gewinne, die aus Verlusten entstehen, was David Harvey Akkumulation durch Enteignung nannte.
Ahnungslos könnte die Frage gestellt werden, wie diese Finanzjongleure mit ihrer Industrie immer höhere Renditen erzielen können, wenn doch immer mehr den Bach runter geht. Die Kunst besteht ausschließlich darin, im rechten Moment einzusteigen und sich rechtzeitig wieder zurückzuziehen. Dabei kommt ihnen einerseits die Technik zugute und andererseits die Politik. Spekulationen dieser Art stützen sich zum einen auf komplizierte Computerprogramme, die diese Schwankungen rechtzeitig erkennen und zum anderen auf Regierungen, die diesen Geschäftsmodellen ihren Segen geben, weil sie sich die entsprechenden Gesetze von der Finanzindustrie schreiben lassen. Das Entscheidende an diesem fehlerhaften Prozess aber ist das überproportionale Wachsen der großen Geldvermögen. Sie entstehen natürlich in erster Linie dadurch, dass die Löhne stagnieren oder gar sinken und den Vermögenden die Steuern gesenkt werden. Zweitens aber wachsen sie überproportional, weil die Rendite von Geldgeschäften schon seit Jahrzehnten höher ist, als die Rendite aus der materiellen Produktion. Im vergangenen Jahr vermehrten sich zum Beispiel die privaten Geldvermögen in der BRD um rund 165 Milliarden Euro, eine Summe die mehr als doppelt so groß ist, wie der deutsche Warenexport und fast einem Drittel aller Steuereinnahmen entspricht. Und woher kommt das viele Geld? Es ist eine schlichte Eigenproduktion. Denn ausgestattet mit der Fähigkeit, durch günstige Käufe und rechtzeitige Verkäufe stets einen Gewinn zu erzielen, produziert die Finanzindustrie Gewinne, die weit über dem Wachstum der Realwirtschaft liegen. So wachsen die Geldvermögen selbst dann, wenn die Wirtschaft schrumpft. Und dieses Wunder wird nicht auf den Märkten vollbracht, sondern in den entsprechenden Finanzinstituten. Von lebendigen Geldhändlern, die ihren nicht weniger lebendigen Anlegern immer höhere Vermögenseinkommen verschaffen möchten. Die Aussage, dass die Märkte dabei ganze Volkswirtschaften ruinieren, ist ebenso unsinnig, als wenn ein Autofahrer einen Fußgänger totfährt und sich damit herausredet, der Verkehr hätte den Armen umgebracht.
Aberglaube ist eine hartnäckige Angelegenheit, vor ihm scheitert jede Vernunft, weil der Glaube selbst dort Berge versetzt wo gar keine sind. Seit der neoliberale Aberglaube den Zusammenhang von Nachfrage, Produktion und Beschäftigung leugnet, glauben unsere Chefökonomen und ihre politischen Helfershelfer, dass die Wirtschaft um so schneller wächst, je mehr die Löhne sinken und die Staatsausgaben zusammengestrichen werden. Nur in der größten Stunde der Not, als auf dem Höhepunkt der Finanzmarktkrise die Wirtschaft zusammenzubrechen drohte, ließen sie von ihrem Aberglauben ab und legten plötzlich Konjunkturprogramme auf. Das war gut und wirksam, half aber nicht wirklich. Denn zur gleichen Zeit hätte der aufgeblähten Geldblase die Luft abgelassen werden müssen. Konkret gesagt, man hätte das fiktive Kapital entwerten sollen. Stattdessen wurden immer neue Kredite ausgereicht um faule Kredite vor der Entwertung zu schützen. Doch die Besitzer der großen Geldvermögen schlafen unruhig. Sie flüchten von der einen in die andere Anlage, wechseln vom Euro in Schweizer Franken oder gar ins Gold und produzieren auf den Märkten eine heillose Unordnung, die den Geldhändlern und Börsianern den Schweiß auf die Stirnen treibt. Ihre wundertätigen Computerprogramme spielen verrückt und die Politiker gehen zunächst einmal in Urlaub.
Die logische Antwort auf diese Lage kennt nur zwei Maßnahmen: Die Geldblase darf nicht am Platzen gehindert werden und erhebliche Teile der verbleibenden Geldvermögen müssen in staatliche und private Nachfrage verwandelt werden, damit die Realwirtschaft wieder eine Zukunft hat. Das Problem ist nur, dass die Entwertung des überakkumulierten Kapitals nicht nur die großen Geldvermögen trifft, sondern wiederum die Banken, die pleitegehen können und Millionen Kleinsparer oder Gehaltskonten mit in den Abgrund reißen. Nicht nur die großen Vermögen verlieren an Wert, sondern auch die kleinen Lebensversicherungen. Abgesehen davon, dass sich in dieser Situation bei den Staaten der nackte Eigennutz durchsetzt. Es beginnt ein Wettbewerb um die Verteilung der Verluste, der jedes gemeinsame Bemühen um ein gezieltes Umsteuern zu Nichte macht. Eine Rückkehr zum „normalen“ Kapitalismus aber setzte eine gemeinsame Umverteilungspolitik voraus. Ein gezieltes Abschmelzen der Geldvermögen durch Steuern oder Zwangsanleihen, das Verbot bestimmter Geldgeschäfte, die Erhöhung des Eigenkapitals der Banken und natürlich eine deutliche Ankurbelung der öffentlichen und privaten Nachfrage. Denn so lange etwa drei Viertel der Produktion von Gütern und Dienstleistungen im Privatsektor landet, bleibt die Erhöhung der Lohnquote die letztlich entscheidende Maßnahme zur Gesundung der Realwirtschaft.
Harald Werner, 11. August 2011