Der Umtausch der alten Währungen gegen eine neue war nicht ganz einfach, weil für jedes Dorf ermittelt werden musste, wie viel neue Währung sie für ihre alte erhalten sollte. Schließlich einigte man sich darauf, als Maßstab den alten eingespielten Wechselkurs zu nehmen. Das ist gut so, sagten sich die ärmeren Dörfer, denn dann sind auch unsere Waren billiger und lassen sich leichter auf den Märkten der Reichen verkaufen. Die reichen Dörfer aber lachten sich ins Fäustchen, weil sie endlich ihren gewaltigen Warenüberschuss losschlagen konnten. Sie stellten nämlich lange schon immer weniger Lebensmittel her, wie sie die ärmeren Dörfer produzierten, sondern hauptsächlich Werkzeuge und allerlei Luxusgüter, die in den ärmeren Ländern heiß begehrt waren aber früher nicht bezahlt werden konnten. Damals schwankten nämlich noch die Wechselkurse. Je reicher ein Dorf war, desto teurer waren seine Waren für die armen und umgekehrt. Nun aber, wo alle die gleiche Währung hatten, fiel dieser Schutzwall weg.
Anfangs sah alles sehr gut aus. Die armen Dörfer verkauften mehr Lebensmittel, die reichen mehr Werkzeuge und Luxusgüter. Doch wenn die Dorfschulzen am Ende eines Jahres nachzählten, was sie die reichen Dörfer den ärmeren Dörfern und die ärmeren den reichen geliefert hatten, dann wurde den Dorfschulzen der ärmeren Dörfer klar, dass sie noch so viele Tomaten und Weintrauben auf den Märkten der reicheren Dörfer verkaufen konnten, am Ende hatten die armen Dörfer mehr gekauft, als sie selbst verkaufen konnten. Aber wie gut, dass die reichen Dörfer nicht nur zu viele Waren, sondern auch zu viel Geld hatten. Also lieferten sie nicht nur die Waren, sondern liehen auch das Geld, mit dem ihre Waren bezahlt werden konnten. Das ist normal sagten die reichen Dörfer, denn wartet nur ab, eines Tages werdet ihr so reich wie wir sein und dann könnt ihr das viele Geld auch zurückzahlen.
Eines Tages aber gab es einen großen Knall im fernen Amerika, weil auch dort zu viele Leute über zu lange Zeit viel zu viel Geld geliehen hatten. Die schlauen Geldverleiher hatten das aber kommen sehen und ihre Kredite in lauter kleine Päckchen verpackt, die sie in den reichen Dörfern unseres kleinen Landes verkauften. Da war in den reichen Dörfern ein Jammern und Wehklagen über diesen Verlust, so dass sich die Dorfschulzen nicht anders zu helfen wussten, als selber Kredite aufzunehmen, damit die Besitzer der vielen kleinen faulen Päckchen nicht arm wurden. Das kostete viel Geld, so dass die Dorfschulzen die Schwimmbäder schließen und den Armen die Almosen kürzen mussten. Aber es kam noch schlimmer, denn plötzlich stellte sich heraus, dass auch die den armen Dörfern gegebenen Kredite ziemlich faul waren. Und wieder war ein Jammern und Wehklagen in den reichen Dörfern, weil die Reichen in den reichen Dörfern um ihre vielen faulen Kreditpäckchen fürchteten. Also spannten die Dorfschulzen einen großen Rettungsschirm auf, der so etwas wie eine Versicherung gegen den Verlust von Kreditpäckchen sein sollte. Doch die Angst der Reichen in den reichen Dörfern wollte nicht weichen, weil ihre Päckchen ständig an Wert verloren.
Aber das größte Unglück der armen Dörfer war, dass sie ihre Kredite ständig erneuern mussten. Auch das ist normal, denn selbst die reichen Dörfer tauschten ständig ihre alten gegen neue Kreditpäckchen aus. Doch während die reichen Dörfer von ihren Reichen ständig neues Geld zu niedrigen Zinsen bekamen, stiegen die Zinsen für die armen Dörfer in einem solchen Maße, dass sie immer mehr Geld für das geliehene Geld bezahlen mussten. Ihre Schulden explodierten, ohne dass sie mehr Geld hatten. Schon war die Rede davon, dass die Dörfer einfach pleite und das viele schöne Geld der Reichen in den reichen Dörfern verloren ist. Und so wurde ein noch größerer Schirm in Auftrag gegeben, um noch mehr faule Kreditpäckchen abzusichern. Und wenn sie nicht alle zusammen pleite sind, so machen sie das noch heute.
Die Wahrheit ist komplizierter aber nicht wirklich anders. Tatsächlich ist die Schuldenkrise eine Folge von drei Ungleichheiten. Erstens der Ungleichheit in den Handelsbilanzen zwischen reichen und ärmeren Ländern, zweitens der Ungleichheit in der Arbeitsproduktivität und drittens die soziale Ungleichheit. Was die Ungleichheit in den Handelsbilanzen und der Arbeitsproduktivität betrifft, so ist Deutschland bislang der absolute Gewinner. Die Kehrseite des deutschen Exportüberschusses sind allerdings Defizite und Schulden in den Ländern, die deutlich weniger nach Deutschland ausführen können, als sie selbst einführen. Ein entscheidender Grund dafür ist der Euro. Gäbe es noch die „gute alte DM“, dann wäre ihr Wechselkurs so hoch, dass sich die ärmeren Euro-Länder deutlich weniger deutsche Waren kaufen könnten. Sie müssten mehr selbst produzieren, hätten eine geringere Arbeitslosigkeit und könnten dementsprechend nicht nur Lohnersatzleistungen sparen, sondern auch mehr Steuern einnehmen.
Natürlich liegt der Einwand nahe, dass die Ungleichheit zwischen Import und Export durch die deutlich höhere deutsche Arbeitsproduktivität verursacht wird. Das ist nicht ganz falsch, hat aber seine Ursache in der hierzulande wachsenden Ungleichheit. Denn in den vergangenen zwei Jahrzehnten sind die Lohnstückkosten in keinem anderen OECD-Land so schwach gestiegen wie in Deutschland. Die Schere zwischen der Arbeitsleistung und den Löhnen öffnet sich immer weiter. So hat die Arbeitsproduktivität In den vergangenen 20 Jahren je Beschäftigtenstunde um 32,9 Prozent zugenommen, während der Netto-Reallohn um 5,2 Prozent gesunken ist. (Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2011) Selbst das Institut der deutschen Wirtschaft muss zugeben:
Exportüberschüsse und Lohndumping sind als zwei Seiten der gleichen Medaille. Wobei die absoluten Prozentanteile nur die halbe Wahrheit ausdrücken. Geht man tiefer in die Statistik, dann sind nämlich auch die Reallohnverluste sehr ungleich verteilt. Der größte Teil der Verluste wird von den prekär Beschäftigten bezahlt, von Leiharbeitern, Teilzeitbeschäftigten und Niedriglöhnern ohne Tarifvertrag. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit haben 2010 mehr als 4,66 Mio. Vollzeitbeschäftigte im Niedriglohnsektor gearbeitet, 2009 waren es noch gut 4,46 Mio.
Auf der anderen Seite, um auf unser Märchen zurückzukommen, hat die Zahl der Millionäre trotz Finanz und Schuldenkrise drastisch zugenommen. So verkündet die VALLUGA AG, eine Beratungsgesellschaft für Bestverdienende, in ihrem jüngsten Vermögensbericht für Deutschland, Österreich und die Schweiz voller Stolz:
Die Millionärsberater machen auch keinen Hehl daraus woher das Geld stammt, nämlich aus Gewinnen am Finanzmarkt. Während sie fluchtartig aus den faulen Staatsanleihen geflohen sind, was natürlich deren Zinslasten hochtreibt, verdienen sie nun an den Finanzmärkten an der Spekulation mit diesen Papieren, beziehungsweise mit Kreditversicherungen. So kauft man etwa Versicherungen auf griechische Staatsanleihen - ohne selbst welche zu besitzen – und verkauft sie mit Aufschlägen bis zu 1000 Prozent, wenn sich ein Besitzer solcher Anleihen im letzten Moment gegen einen Schuldenschnitt versichern will. Es mag in die Brüche gehen was will, der Millionärsklub verdient auch daran noch. Die Schlussfolgerungen aus allem: Man muss die armen Länder retten indem man ihre Schulden abwertet und die Besitzer der großen Geldvermögen dafür bluten lässt. Das ist leichter gesagt als getan, aber erst mal muss man es immer wieder sagen, damit sich dafür auch eine Mehrheit findet.
Harald Werner, 4. November 2011