Es mangelt nicht an Beispielen für die Stichhaltigkeit der Alternativen und Weitsicht der LINKEN. So hat schon die PDS bei der Einführung des Euros auf die Konstruktionsfehler der Währungsunion hingewiesen, doch das gegenwärtige Desaster ist noch größer als vorhergesagt. Gleiches gilt für die Kritik der deregulierten Finanzmärkte, die von der rot-grünen Bundesregierung zugelassenen Hedgefonds, die Aussetzung der Vermögenssteuer, wie überhaupt der unzähligen Steuergeschenke an potente Konzerne und Spitzenverdiener. Ganz zu schweigen von der Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn, den seinerzeit nicht nur die SPD ablehnte, sondern auch den Gewerkschaften nicht passte. Oder nehmen wir die Transaktionssteuer für Kapitalgeschäfte, früher einmal Tobin-Steuer genannt, für die die PDS und später die LINKE von allen Seiten für wirklichkeitsfremd erklärt wurde und die heute zu einer Kernforderung der schwarz-gelben Bundesregierung aufgestiegen ist. Die SPD will die von der LINKEN heftig kritisierte Senkung des Spitzensteuersatzes zumindest teilweise rückgängig machen und scheut sich auch nicht die von der LINKEN geforderte und damals heftig abgelehnte Reichensteuer zu propagieren. Und damit nicht genug, veröffentlicht der Herausgeber der FAZ einen Kommentar mit der Überschrift: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“.
Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen und werden sich umso mehr wiederholen, je tiefer der finanzmarktgetriebene Kapitalismus in die Krise gerät. Es wäre allerdings fatal, anzunehmen, dass es sich hier um eine Anpassung an die Programmatik der LINKEN handelt, es handelt es sich um die Anpassung an die sich verändernden Verhältnisse. Das Verdienst der PDS und der LINKEN besteht lediglich darin, diese Entwicklung vorausgesehen zu haben. Doch in der Politik gibt es weder ein Erstgeburtsrecht für zukunftsfähige Vorschläge, noch besteht die geringste Hoffnung auf gesellschaftliche Erinnerungsfähigkeit. Ja, die LINKE kann auch kaum damit rechnen, dass sich der größere Teil ihrer Mitglieder und erst recht nicht ihrer WählerInnen an die jüngere politische Vergangenheit erinnert – von der weiter zurückliegenden ganz zu schweigen.
Glücklicherweise ist die Partei klug genug, sich nicht in all diesen Fällen auf ihre zurückliegende Weitsicht zu berufen – obwohl daran zu erinnern, manchmal durchaus nützlich sein kann. Statt dessen, und das ist nicht weniger wirkungslos, erhebt sie bei jedem neuen Anpassungsschritt der Rechten ihre Stimme, um auf Halbherzigkeiten hinzuweisen und mehr vom Gleichen zu fordern. Doch eine Linke, die wenig mehr zu bieten hat, als ein konsequenteres Voranschreiten der herrschenden Politik einzuklagen, ist in einer misslichen Lage. Sie macht, was man von jeder Opposition erwarten kann.
Seit Bismarck ist die sozialistische Linke mit der Tatsache konfrontiert, dass der Kapitalismus nicht nur technisch-ökonomisch revolutionär ist, sondern auch zu tiefgreifend sozialen Umwälzungen fähig, so fern seine Herrschaft bedroht ist. Übrigens, immer zu seinem Vorteil. Reformisten haben daraus den fatalen Schluss gezogen, dass der Kapitalismus in den Sozialismus „hineinwächst“. Das meinten große Teile der Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg und davon war auch die SPD in Erhards sozialer Marktwirtschaft überzeugt. Das sich daraus ergebende Problem hat keiner besser beschrieben, als der italienische Kommunist Antonio Gramsci, der diesen Vorgang als „passive Revolution“ bezeichnete. Passive Revolutionen zeichnen sich nicht nur durch ein Nachgeben gegenüber der Linken aus, sondern sie sind Modernisierungsprozesse, welche nicht nur den Einfluss der sozialistischen Kräfte begrenzen sollen, sondern in erster Linie der Behebung allgemein anerkannter gesellschaftlicher Probleme dienen. Während die Reformisten glauben, mit den kapitalistischen Reformen ihrer Alternative näher zu kommen, verstärkt sich in der Gesellschaft allerdings der Eindruck, dass es keiner Alternative bedarf.
Die Kommunisten haben freilich über Jahrzehnte nicht nur nichts von Gramsci gelernt, sondern ihn auch nicht gelesen. Stattdessen haben sie entweder auf den Zusammenbruch gewartet, der herrschenden Reformpolitik eine mehr oder weniger abstrakte revolutionäre Alternative entgegengesetzt oder den nicht ganz unrichtigen, aber für das Masssenbewusstsein nicht immer überzeugenden Nachweis gefrührt, dass die soziale Ungerechtigkeit fortbesteht. Das Problem dieser Strategie bestand immer darin, dass jeweils größere Teile der abhängig Beschäftigten von der aufgezeigten sozialen Ungerechtigkeit entweder nicht betroffen waren, oder aber mehr Angst vor dem Verlust ihrer bestehenden Sicherheiten, als Mut zu Neuem hatten. Und das ist die eigentliche Überlebenschance des sozialdemokratischen Reformismus: Er fordert weitergehende Reformen, verspricht gleichzeitig das Bestehende zu verteidigen und pflegt trotzdem die Sehnsucht der Menschen nach einer besseren Zukunft .
Was der LINKEN bleibt, wenn sie weder in die Endlosschleife der SPD, noch in die Sackgasse kommunistischer Zusammenbruchshoffnungen einbiegen will, ist das Nachdenken über eine Rolle sozialistischer Parteien, wie sie von Gramsci angedacht wurde. Es ginge um eine Partei, die ihre gesellschaftliche Hegemonie weder durch radikale Parolen, noch durch die Entwicklung radikaler Reformprogramme gewinnt, sondern durch eine Radikalisierung des Alltagsbewusstseins. Letztlich laufen Gramscis Vorschläge auf eine Kulturrevolution hinaus, in der die große Masse der abhängig Beschäftigten, alle anders benachteiligten Gruppen und vor allem die kritischen Intellektuellen nach mehr verlangen, als der Verteidigung oder allmählichen Verbesserung ihrer persönlichen Lage. Dieses Mehr darf auch konkret sein, aber es darf sich nicht im Konkreten erschöpfen. Es geht darum eine Alltagskultur zu schaffen, die nicht von radikalen Parolen oder Forderungen geprägt ist, sondern von radikalen Gedanken und subversiven Bedürfnissen.
Die LINKE verdankt ihre bisherigen Erfolge vor allem dem Verrat sozialdemokratischer Grundwerte durch die von Schröder und Blair inszenierte „neue Sozialdemokratie“ und die Agenda 2010. Die Partei stieß bei ihrer Gründung in ein politisches Vakuum, das nicht nur den linken Sozialdemokraten den Atem nahm, sondern auch vielen Wählerinnen und Wählern, denen weniger die sozialistische Visionen genommen wurden, wenn sie denn überhaupt welche besaßen, sondern soziale Besitzstände. Inzwischen aber hat die Empörung über die Agenda 2010 ihre Halbwertzeit überschritten und die Krise tut das Übrige, um der Wiederaufführung von Rot-Grün eine zweite Chance zu geben. Einige der im Super-Wahljahr 2011gewelkten Hoffnungen der LINKEN sind zwar auch auf eigene Fehler zurückzuführen, die meisten aber auf die veränderte politische Lage. Eine Lage, die sich für die LINKE auch dann nicht ändern wird, wenn sie ihre handwerklichen Fehler minimiert, Grabenkämpfe eindämmt und den Streit in den eigenen Reihen hält, statt ihn in der Presse auszutragen. Das eigentliche Problem der LINKEN besteht darin, dass sich ihr Gründungsbonus erschöpft hat und sich Sozialdemokraten wie Union ihrer Forderungen angenähert haben, zwar halbherzig oder unglaubwürdig, aber von der Öffentlichkeit durchaus wahrgenommen. Die Zeit ist vorbei, als sich die herrschende politische Klasse ebenso offen wie provozierend zum Neoliberalismus bekannte und im Paket soziale Grausamkeiten propagierte. Jetzt sind Krisenmanagement und Schadensbegrenzung angesagt, um die „deutschen Interessen“ gegenüber dem angeblichen Schuldenschlendrian der Südeuropäer zu verteidigen.
Die eigentlichen Zusammenhänge des krisenhaften Geschehens ins öffentliche Bewusstsein zu tragen, fällt der LINKEN aus zwei Gründen schwer. Einmal weil sie einen äußerst begrenzten Zugang zum öffentlichen Bewusstsein hat und zum anderen auf Grund der überaus komplizierten Materie des Krisengeschehens. Das Alphabet ökonomischer Mechanismen ist dem Alltagsbewusstsein des 21.Jahrhunderts mindestens so schleierhaft, wie den Menschen des Mittelalters die Rechtschreibung. Und die Mitglieder und Wähler der LINKEN mögen dabei etwas besser abschneiden, machen aber keine relevante Ausnahme. Die ebenso zahlreichen wie kompetenten Erklärungen und Alternativkonzepte, die Bundestagsfraktion und Parteivorstand seit Jahren zur Finanz- und Wirtschaftskrise abgegeben haben, verlangen mehr, als dass man sie liest. Wobei selbst das in Frage zu stellen ist. Aber das Entscheidende ist, dass sie ein Mindestmaß ökonomischer Grundkenntnisse verlangen, um sie zu verstehen, und noch mehr, um sie im Gespräch erklären zu können.
Offensichtlich mangelt es der LINKEN nicht nur an Zugängen zum Alltagsbewusstsein, sondern auch an aufklärenden Vermittlungsformen. Solange sie sich, wie in der Gründungsphase, auf die Empörung über offenkundige soziale Grausamkeiten oder die Verbreitung enthüllender Tatsachenbeschreibungen beschränken konnte, bestand dieses Problem nicht, weil die Tatsachen für sich sprachen. Was die LINKE heute, angesichts einer nicht mehr unwahrscheinlichen Kernschmelze des Finanzsystems zu vermitteln hätte, sind aber keine Enthüllungen mehr, sondern Aufklärung über die Wirkungsweise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus.
Ein weiteres Problem stellt die Grundstruktur des bestehenden Alltagsbewusstseins dar, das von der Partei in der Regel lediglich aus Wahlprognosen oder systemkonformen Meinungsumfragen abgeleitet wird. Es bedarf jedoch keiner tiefschürfenden soziologischen Analysen, um zu dem Schluss zu kommen, dass das herrschende Bewusstsein, bei aller Kritik bestehender Ungerechtigkeiten, durch Konsumfreudigkeit, Festhalten an der bestehenden Produktions- und Lebensweise, Konkurrenzdenken und mangelnde Empathie für die Ausgegrenzten dieser Gesellschaft geprägt ist. Was die LINKE wirklich will, nämlich nicht nur Banken vergesellschaften oder die Reichen zur Kasse bitten, sondern einen Bruch mit der allgemein akzeptierten Produktions- und Lebensweise durchzusetzen, dürfte nicht nur wenig bekannt sein, sondern auch, wenn es konkret wird, auf einigen Widerstand selbst bei ihren Anhängern stoßen.
Alle geschilderten aktuellen Probleme zusammengefasst, steht die LINKE vor der Herausforderung, sich gewissermaßen neu zu erfinden. Nicht in ihrer Programmatik, aber in ihrer Arbeitsweise und Schwerpunktsetzung. Im Gegensatz zu allen anderen Parteien, die an das bestehende gesellschaftliche Bewusstsein anknüpfen, oder zumindest an das Bewusstsein ihrer sozialen Milieus, muss sich die LINKE bei der Veränderung des gesellschaftlichen Denkens und der Vermittlung eines Mindestmaßes neuer theoretischer Einsichten bewähren. Was damit gemeint ist, lässt sich am ehesten am Beispiel der Grünen demonstrieren, denen dies in der Frage der Ökologiesierung weitgehend gelungen ist, weil sie das gesellschaftliche Wertesystem und auch die Lebensweise der Gesellschaft veränderten. Mit der entscheidenden Einschränkung, dass sie sich dabei auf eine unabhängig von ihnen bestehende gesellschaftliche Bewegung stützen konnten, die den Kapitalismus zudem nicht überwinden, sondern nur stofflich verändern wollte. Die LINKE aber muss nicht nur eine sehr viel tiefer gehende Umwälzung der bestehenden Lebensweise, sondern auch der sozialen und ökonomischen Verhältnisse anstreben. Und dies, ohne dass sie sich auf eine mit der Öko-Bewegung vergleichbare gesellschaftliche Basis stützen könnte.
Hans-Jürgen Urban, Vorstandsmitglied der IG-Metall, hat angesichts der vielfältigen linken Strömungen das Wort von der Mosaik-Linken geprägt. Natürlich ist die LINKE ein Teil dieses Mosaiks, aber sie muss zu einem integralen Bestandteil dieses Mosaiks werden, wenn sie ihrer Rolle als Partei gerecht werden will. Und dies nicht nur programmatisch und in der Papierform, sondern praktisch, kulturell und vor allem in der Öffentlichkeit. Noch ist sie hauptsächlich eine Parlaments- und Wahlpartei und ihr Parteileben spielt sich überwiegend in Büros und Hinterzimmern ab, das nur sporadisch von Infoständen und der Beteiligung an Demonstrationen unterbrochen wird. Und wer einen klugen Menschen für die Partei gewinnen will, versucht es am besten nicht durch eine Einladung zur nächsten Basisversammlung. Denn die Zahl der Mitglieder, die die LINKE durch den Ablauf solcher Veranstaltungen verloren hat, dürfte um ein Vielfaches größer sein, als derjenigen, die nach solch einem Besuch einen Aufnahmeantrag stellen.
Mit einigem Erfolg ist es bisher zumindest in der öffentlichen Selbstdarstellung gelungen, einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Von der Plakatwerbung, über die Parteitagsinszenierung bis hin zu den Internetauftritten strahlt die LINKE ein kreatives, lebendiges Image aus. Keine größere Demonstration, wo sich nicht die Spitzen der Partei zum Fotoshooting hinter einem eindrucksvollen Transparent versammeln. So sinnvoll diese Inszenierungen manchmal auch sein mögen, es bleiben Inszenierungen, die in einem krassen Gegensatz zur innerparteilichen Wirklichkeit stehen.
Die LINKE wird vor allem, inhaltlich wie personell und auch in der Öffentlichkeitsarbeit, durch die Parlamentsarbeit bestimmt. Denn nach ihren Wahlerfolgen in den vergangenen Jahren verfügt sie über mehr als 6.000 kommunale Abgeordnete, rund 292 kommunale Spitzenbeamte, 185 Abgeordnete in Landtagen, sowie über 76 Bundestags- und acht Europaabgeordnete. Das ist ein beachtliches und wichtiges Potenzial, mit dem die Parteibasis weder inhaltlich noch personell mithalten kann. Es kann davon ausgegangen werden, dass zusammen mit den Beschäftigten der Abgeordneten und Fraktionen, weit über 1.000 Mitglieder der Partei ganztags mit parlamentarischer Arbeit beschäftigt sind, dafür ordentlich bezahlt werden und das Leben der Partei weitaus stärker bestimmen, als sämtliche ehrenamtlichen Vorstände. Ganz davon abgesehen, dass die wichtigsten ehrenamtlichen Funktionen auch noch von Mandatsträgern übernommen werden. Der 12 Mitglieder zählende geschäftsführende Parteivorstand wird ausschließlich durch Bundes-, und Landtagsabgeordnete besetzt, wie der 44köpfige Vorstand insgesamt zu mehr als zwei Dritteln aus hauptamtlichen Mandatsträgern oder Mitarbeitern gebildet wird.
Soviel Kompetenz der LINKEN auch durch ihre Mandatsträger und Fraktionsbeschäftigten zufließen mag, so groß sind auch die damit verbundenen Probleme. Das betrifft zunächst die inhaltliche Schwerpunktsetzung, die natürlich durch die aktuellen parlamentarischen Vorgänge bestimmt wird und nicht durch eine davon unabhängige politische Strategie der Partei. Gleichzeitig ist die in den Fraktionen akkumulierte Kompetenz nicht ohne weiteres auf die Parteibasis übertragbar, sondern muss vermittelt werden, wozu Referate in den Basisversammlungen erstens selten geeignet sind und zweitens auch nicht in dem Maße angeboten werden können, wie es erforderlich wäre. In der Regel wird die Mitgliedschaft über die parlamentarische Arbeit ihrer Partei mehr durch die öffentlichen Medien, als durch ihre eigenen Strukturen informiert. Und, dass die Basis selbst Forderungen an die Fraktionen stellt, liegt, von der Kommunalpolitik einmal abgesehen, jenseits aller Realität.
Problematischer als der asymmetrische Kommunikationsfluss ist nur noch die Asymmetrie der Parteihierarchie. Nicht nur, dass die ehrenamtlichen Vorstände auf Bundes und Landesebene zunehmend von Mandatsträgern dominiert werden, sondern sie verlieren regelmäßig auch ihre Ehrenamtlichen an die Parlamentsarbeit. Einerseits wegen der offenkundigen materiellen Anreize, andererseits aber auch auf Grund des außerordentlichen Bedeutungsgewinns, den die Einnahme eines Parlamentsmandats in der Partei mit sich bringt. So lange ein Parteimandat als Pflicht erscheint, während ein parlamentarisches Mandat als die eigentliche Kür einer Parteikarriere gilt, ist die Asymmetrie der Parteihierarchie unaufhebbar. Dieser Mechanismus scheint in einer parlamentarisch regierten Gesellschaft unausweichlich, ist er aber nicht, wenn der Weg in die Parlamente, zumindest in der Regel, mit der Bewährung in der politischen, gewerkschaftlichen oder einer anderen, außerparlamentarischen Basisarbeit beginnt. Vor allem aber muss die ehrenamtliche Parteiarbeit nicht nur eine größere Unterstützung, sondern auch Anerkennung und Aufmerksamkeit finden.
Die Dominanz der Parlamentsarbeit und Mandatsträger trocknet aber nicht nur das ehrenamtliche Engagement aus, sie führt zwangsläufig auch zu einer Vernachlässigung der eigentlichen Parteiarbeit. Denn das Wichtigste was eine sozialistische Partei zu bewirken hat, ist der Kampf um geistig-kulturelle Hegemonie in der Zivilgesellschaft und in den Alltagsstrukturen. Hegemonial kann im Sinne von Gramsci eine sozialistische, auf die Überwindung der bestehenden Verhältnisse ausgerichtete Partei nur werden, wenn ihr Denken, ihre Werte und Sinngebungen zunächst in einem relevanten Teil der Bevölkerung hegemonial, das heißt mehrheitsfähig sind. Bevor man sich das momentan kaum erreichbare Ziel stellt, in einer relevanten Zahl von Wahlkreisen Mehrheiten zu erobern, muss man in ihnen zumindest eine politisch-kulturelle Deutungshoheit gewinnen. Im Osten, wo PDS und Linke dies einmal hatten, profitierten sie mehr von der Vergangenheit, als von der Gegenwart und man muss feststellen, dass nicht nur dieses Erbe schmilzt, sondern auch die Mitgliedschaft. Im Osten wie im Westen wird daran auch aktive Mitgliederwerbung wenig ändern, denn diese setzt genau das voraus, was neue Mitglieder anziehen könnte, nämlich ein inspirierendes, geistig-kulturell anregendes Parteileben.
Obwohl dies in der LINKEN nicht bestritten wird, reduzieren sich die Vorstellungen, was das denn sei, mehr auf den inneren Zustand, als auf die äußere Wirkung der Partei. Nämlich auf ihre Fähigkeit, in der Öffentlichkeit nicht nur politisch alternative Forderungen zu verbreiten, sondern selbst als eine Alternative zu erscheinen. Als soziale Gemeinschaft, die eine Alternative zur verflachenden und verdummenden Mediengesellschaft anbietet und deren alltägliche Praxis Mutlosigkeit, Vereinzelung und Resignation überwindet. Dort wo die Partei in der Öffentlichkeit auftritt oder Veranstaltungen organisiert, muss sich eine Ahnung davon verbreiten, was eine alternative, die persönliche Emanzipation ermöglichende Lebensweise sein könnte. Und dies ist weniger eine Frage der professionellen Inszenierung, von der die Mediengesellschaft ohnehin genügend zu bieten hat, als eine Frage des sozialen Klimas und der persönlichen Zuwendung, die Außenstehende erfahren, wenn sie die Partei erleben. Bei alledem geht es nicht nur ums Wohlfühlen, wozu sich diverse andere Gelegenheiten anbieten – vom Fanclub bis zum Kegelverein. Die LINKE muss Anlässe und Räume schaffen, in denen sich die Menschen aussprechen können, sich näher kommen und als Gemeinschaft erfahren. Sie muss den öffentlichen Raum nicht nur bei Demonstrationen oder mit Infoständen erobern, sondern mit attraktiven Festen und subversiver Kultur einen Gegenentwurf zur Vermarktung des öffentlichen Lebens anbieten. So etwa wie die Bewohner in Berlin Kreuzberg, die einmal jährlich, mitten auf der Bergmannstraße, eine mehrere Hundert Meter lange Tischreihe aufstellen, um ein gemeinsames Spaghettiessen zu zelebrieren, sich selbstbewusst als Kiezgemeinschaft zu präsentieren.
Bei allem darf freilich nicht vergessen werden, dass die Basis nur dann an geistiger und kultureller Ausstrahlung gewinnen kann, wenn die Bildungs- und Kulturarbeit vom Rand ins Zentrum der Partei rückt und man nach Parteiveranstaltungen mit dem Gefühl einer geistig wie kulturellen Bereicherung nach Haus gehen kann. Und noch einmal Gramsci: Der Kampf der gegensätzlichen gesellschaftlichen Lager ist immer auch ein Kampf um die Intellektuellen der Gesellschaft. Es gab schon in den besten Zeiten der sozialistischen Bewegung keine nur bürgerlichen oder nur proletarischen Intellektuellen, sondern die sozialistische Linke hat immer dann Intellektuelle und Künstlerinnen gewonnen, wenn sie ihnen einen attraktiven Raum für subversives Denken und kulturelle Experimente anbieten konnte.
Harald Werner, Dezember 2011